Bürgerbewegung

Paten helfen Multikultikindern beim Lesen

| Lesedauer: 13 Minuten
Alan Posener

Malik, acht Jahre alt, will Archäologe werden, Esra Wissenschaftlerin und Jessica Tierärztin – nur mit dem Lesen klappt es nicht richtig. Lesepaten helfen, sie sind in Städten zu einer echten Bürgerbewegung geworden. Ihnen bringt die Arbeit Lebensfreude. Ein Bericht von der Schnittstelle mehrerer Welten mitten in Berlin.

Rainer Junak strahlt. Der 66-Jährige ist schweißgebadet, aber glücklich. Er hat gerade zwei Stunden in einem Berliner Integrationskindergarten zugebracht. Junak arbeitet dort als Lesepate mit Kindern, die besonders viel Zuwendung brauchen. "Wenn ich aus meiner Mäuseburg komme, bin ich richtig wohlig angefüllt", sagt er. Man sieht es ihm an.

Friederike Bezold, 57, arbeitet als Assistentin der Geschäftsleitung in den schicken Büroräumen des amerikanischen Pharmaunternehmens Pfizer am Potsdamer Platz. Pfizer ist vor zwei Jahren aus der beschaulichen Residenzstadt Karlsruhe nach Berlin gezogen. Die Firma stellt Frau Bezold zwei Stunden in der Woche frei, damit sie als Lesepatin in einer Grundschule arbeiten kann. "Es sind zehn Minuten zu Fuß, aber eine andere Welt", sagt sie. Eine Welt, von der viele ihrer Kollegen keine Ahnung haben. 80 Prozent der Schüler haben einen "Migrationshintergrund", sie kommen aus 26 verschiedenen Ländern. Warum tut sie sich das an?

"Die Freude, die man zurückbekommt, ist viel größer als die Zeit, die man gibt", sagt Frau Bezold. "Ich bin immer beschwingt und erfüllt, wenn ich zurückkomme." Und mit einem Seitenblick auf den PR-Mann der Firma, der neben ihr sitzt, fügt sie hinzu: "Ich bekomme dort mehr unmittelbare Anerkennung als hier. Das tut richtig gut."

Friederike Bezold und Rainer Junak sind zwei von über 2000 Lesepaten, die allein in Berlin an Schulen und Kindergärten Kindern und Jugendlichen beim Lesen helfen. Fünf aus diesen 2000 stellen wir hier zusammen mit einigen ihrer "Patenkinder" vor.

Önder wird bald 16. Er wolle Fotomodell werden, sagt er, nur deshalb lasse er sich fotografieren. Später sagt er: "Quatsch, ich will Polizist werden." Noch später: "Aber das geht nicht. Wegen der Zensuren und wegen der Sache mit der Körperverletzung", als "ein Deutscher" ihm angeblich sagte: "Ich fick' deine Mutter." Ein Deutscher: Önder ist hier geboren, er hat zwei Pässe. Önders Eltern kommen aus der Türkei. Die Mutter ist Krankenpflegerin, der Vater arbeitet als Maschinenführer in einer Fabrik für Implantate. Fleißige Leute. Önder hat es weniger mit dem Fleiß: "Ich will keinen Nachhilfeunterricht. Aber Schmidt ist gut."

Schmidt, das ist Kurt Schmidt, der Lesepate, 78 Jahre alt. In seiner schicken Dachgeschosswohnung im gutbürgerlichen Bezirk Charlottenburg hängt Kunst von Freunden, die er gesammelt hat, als er das Stadtplanungsamt Düsseldorf leitete und sich für den Künstlerverein Malkasten engagierte. Ein Beuys ist darunter. "Ich bin SPD. Der soziale Friede ist mir das höchste Gut", sagt Schmidt. Er koordiniert die Arbeit von acht Lesepaten im Problembezirk Wedding. "Das sind alles Bildungsbürger wie ich. Die haben Freude daran, in einen völlig anderen Lebenskreis einzutauchen."

Freude, schöner Götterfunke: Jetzt sitzt Schmidt in einem unwirtlichen Klassenraum der Weddinger Theodor-Plievier-Hauptschule und liest mit Önder das Buch "Im Chat war er noch so süß!" Das hat die Lehrerin ausgesucht, es geht um die Gefahr des Online-Datings. Önder hat wohl eher andere Probleme. Inzwischen ist ihm eingefallen, dass er Automechatroniker werden will. "Und Topmodel, wenn das nicht klappt." Önder hat einen selbstironischen Humor, Geist, Charme - und keine Chance, wenn er nicht auf Schmidt hört. Der war Flüchtlingskind aus Schlesien, weiß etwas von Migration und Fremdheit, musste die Schule mit 14 abbrechen, hat sich hochgearbeitet und hochstudiert. Er glaubt an Önder und an die anderen Jugendlichen, die oft genug nicht mehr an sich selbst glauben: "Das Wichtigste ist, ihnen gesellschaftliche Anerkennung zu verschaffen. Es sind doch alles Berliner Kinder."

Malik ist so ein Berliner Kind. Er besucht die Reineke-Fuchs-Grundschule in Reinickendorf. In dem Neubauviertel lebte bis vor einigen Jahren eine langsam vergreisende deutsche Bevölkerung. Die Männer hatten in den umliegenden Industriebetrieben gearbeitet: Borsig, Siemens, AEG - stolze Namen. Die Fabrikhallen sind jetzt umgebaut zu Multiplex-Kinos und Einkaufszentren, die meisten Deutschen sind weg. Eingezogen sind vor allem Türken und Araber, die sich die Miete im schicken Multikulti-Kreuzberg nicht mehr leisten können. Maliks Eltern sind Palästinenser aus dem Libanon.

Der Drittklässler ist hier geboren und spricht fließend Deutsch. Malik will "Wissenschaftler oder Archäologe oder Krankenhausarzt" werden. "Mein größter Wunsch ist es, dass meine ganze Familie berühmt wird als Doktoren und Wissenschaftler", verkündet er. Dann denkt er eine Weile nach. "Superheld wäre natürlich auch nicht schlecht." Man ist beruhigt über diesen Anflug von Kindlichkeit.

Maliks Lesepate ist Jürgen Schmidt. Der bärige Diplommathematiker hat ein Häuschen in der idyllischen Borsigsiedlung und hat ein Berufsleben lang für Siemens gearbeitet. Verheiratet, zwei Kinder, die Tochter Grundschullehrerin, der Sohn Öffentlichkeitsarbeiter für die Behindertenwerkstätten. Beide wohnen in der Nähe, es gibt vier Enkel, man sieht sich häufig. "Es klingt nach heiler Welt", sagt Schmidt, "und das ist auch so."

Umso wichtiger ist ihm die Arbeit an der Reineke-Fuchs-Schule, wo die Welt oft nicht ganz so heil ist. Er zeigt Fotos "seiner" Kinder: Die hier kommt aus einer Roma-Familie, die Eltern sind Analphabeten, aber das Mädchen ist so schlau; da sind die Eltern Russen, die sind sehr für Leistungsdruck, da heißt es schon mal: "Prügeln Sie ruhig meine Kinder". Oder sie schicken ihre Kinder gleich auf russische Privatschulen, weil sie nicht mit "Ausländern" zusammen sein sollen.

"Meine Motivation ist, dass diese Kinder die Ingenieure von morgen sind", sagt Schmidt. "Wir Alteingesessenen sind ja bald nur noch 30 bis 40 Prozent. Man sieht doch sofort, wie intelligent die Kinder sind, aber teilweise wirken sie wie verhärmt, wenn sie in die Schule kommen." Schmidts Elternhaus war auch keine Idylle: "Früher wurden wir doch alle verdroschen. Vater kam nach Hause, ihm wurde erzählt, was man ausgefressen hatte, und dann ... Das wurde 68 geächtet."

Seit er in Rente ist, genießt es Schmidt, später aufzustehen. Einmal die Woche muss er aber um sechs raus und in die Schule. "Das ist hart. Aber wenn ich nach Hause komme, bin ich dermaßen zufrieden. Es macht Spaß ohne Ende."

Hans-Peter Schulze geht sogar dreimal die Woche in die Schule. An der Andersen-Grundschule im Wedding gehört der 63-Jährige mit dem scheuen Blick beinahe zum Inventar. Er sagt: "Wenn ich niedergeschlagen bin, komme ich aus der Schule geistig erfrischt nach Hause." Wenn man ihn mit den Kindern sieht, merkt man: Er gehört zu jenen Naturtalenten, die es verstehen, auch von Kindern zu lernen.

Schulze durfte nur acht Jahre zur Schule gehen, aber er ist geistig agil geblieben: "'Spiegel'-Leser seit 1965. Ich habe nur eine Ausgabe verpasst, das war 1974, da hat der dicke Kluncker" - ein legendärer Gewerkschaftsboss - "die Auslieferung verhindert."

Schulze ist gelernter Bäcker. Den größten Teil seines Lebens hat er aber im Jugendstrafvollzug gearbeitet, bis er gegen seinen Willen mit 60 pensioniert wurde, weil es die Vorschrift halt so vorsah. Schulze liebte seinen Job, die Gefangenen respektierten ihn. "Knackis sind wie kleine Kinder", sagt er. "Die wollen nicht aufstehen, die wollen nicht ins Bett gehen und so weiter. Deshalb muss der Vollzugsbeamte verlässlich sein. Wenn du etwas ankündigst, musst du es auch machen."

Schulze hält Kontakt zu ehemaligen Kollegen und zu den Gefängnispsychologen: "Ich muss nachher in den Knast", sagt er, wie andere Leute sagen: Ich muss noch einkaufen. Aber nach der Pensionierung "wollte ich nichts mehr mit Kriminellen zu tun haben. Ich hatte Knackis, die waren 17 oder 18 Jahre alt, waren aber auf dem Niveau von Fünft- oder Sechsklässlern. Ich dachte mir: Da musst du ansetzen!"

In der Schulbibliothek der Andersen-Grundschule sitzt er dann mit einer typischen Weddinger Mischung zusammen: Mogamed aus Tschetschenien, Jessica aus dem Kiez, Esra, deren Eltern aus der Türkei kamen und in Berlin zwei Bäckereien besitzen, und Gihad (man spricht es "Dschihad"). Gihads Vater kommt aus dem Libanon, die Mutter aus Deutschland.

Die Kinder gehen in die vierte Klasse. Manche kommen zu Herrn Schulze, weil sie nicht so gut lesen können; manche, weil sie besonders gern lesen. Jessica hat ihren Vater "lange nicht gesehen". Die Mutter muss früh zur Arbeit gehen, Jessica mit ihren elf Jahren zusehen, dass sie rechtzeitig aufsteht, sich Frühstück macht und den Ranzen packt. "Aber ich bin immer pünktlich." Schulze nickt. Nur mit dem Lesen klappt es nicht so gut, und das ist schade, denn Jessica wäre so gern Kinderärztin oder Tierärztin. Esra weiß nicht so recht, was sie werden soll, aber "meine Mutter meint, ich soll Wissenschaftlerin werden". Darum wird Esra schon im nächsten Jahr aufs Gymnasium wechseln. Den Platz hat sie schon. Gihad ist ein hübscher und aufgeweckter Kerl, der Arzt werden will "oder Spiele-Erfinder". Mogamed - "meine Eltern gehen auch zur Schule, sie lernen Deutsch" - wird Polizist.

Multikulti - hier wird's Ereignis. Leitkultur auch. In der Fritzlar-Homberg-Grundschule liest Friederike Bezold mit Hindi und Zahra, deren Eltern aus dem Libanon kommen, "Die Bremer Stadtmusikanten". Vom Aufbruch in die Fremde, weil man etwas Besseres als den Tod überall finden kann, werden die Mädchen auch zu Hause hören.

Jürgen Schmidt schwört auf Astrid Lindgren und ihren jungen Rebell Michel. Mit dem können sich Malik aus dem Libanon und Jelena aus Serbien ebenso identifizieren wie Hendrik und Sarah aus Berlin. Kurt Schmidt liest mit seinen muslimischen Hauptschülern im Advent die Weihnachtsgeschichte, zum Opferfest die Geschichte Abrahams und zum Tag der Menschenrechte die Erklärung der Menschenrechte. Er nimmt eine Koranausgabe, arabisch/deutsch, mit in die Schule, falls es - was nicht selten vorkommt - zu theologischen Disputen kommt. Müssen Mädchen Kopftuch tragen? Steht das im Koran? Wo denn?

Die Lesepatenbewegung entstand spontan - eine echte Bürgerbewegung als Antwort auf ein Versagen der Politik. Mittlerweile wird sie organisiert - in Berlin tut sich besonders das Bürgernetzwerk Bildung im Verband der Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI) hervor. An der Freien Universität gibt es seit fünf Jahren ein eigenes Veranstaltungsprogramm für die Lesepaten - über 30 Kurse pro Semester, von "Literacy-Erziehung in der Kita" bis "Islamisches Gemeindeleben in Berlin".

Soll man von "Helden des Alltags" reden? Die Lesepaten wirken so glücklich, so erfüllt, dass Pathos fehl am Platz ist. Nach Besuchen in nur fünf Einrichtungen ist man selbst so voller Geschichten, als hätte man den Erzählungen von "1001 Nacht" gelauscht.

Und man ist voller Bewunderung: für die Mitarbeiterinnen etwa im Kindergarten Seelbuschweg, wo über 40 Prozent der Kinder "Integrationskinder" sind - ein Euphemismus für Kinder mit Behinderungen - und 30 Prozent einen "Migrationshintergrund" haben. Wie schaffen sie es, eine so freundliche Atmosphäre zu schaffen? "Das müsste täglich auf der ersten Seite der Zeitung stehen", sagt Lesepate Rainer Junak. Für die Lehrer und Lehrerinnen an den Grund- und Hauptschulen. Für die Eltern - ob das Eltern sind, die aus den Dörfern Anatoliens kommen und ihren Kindern den großen Traum von Aufstieg durch Bildung vermitteln, oder alleinstehende Mütter, die es irgendwie schaffen, ihre Kinder durchzubringen und ihnen durch ihr Beispiel zeigen, was Verantwortung heißt. Vor allem aber für die Kinder. Weil sie so zukunftsfreudig sind. Und auch, weil sie ihren Lesepaten so viel Freude machen.