Morgenpost Online: Herr Professor Biedenkopf, Guido Westerwelle hat eine heftige Debatte über den Sozialstaat ausgelöst. War das überfällig?
Kurt Biedenkopf: Westerwelles Vorgehen ist ebenso schwer erträglich wie unproduktiv. In seiner Argumentation passt nichts zusammen: Er lehnt gesetzliche Mindestlöhne ab. Der Abstand zwischen Hartz IV und niedrigen Löhnen soll sich vergrößern. Aber die Regelsätze will er nicht senken. Wie soll das gehen?
Bundeskanzlerin Merkel hat recht mit ihrer Kritik. Mir fällt es schwer, Westerwelles innenpolitischen Populismus mit liberaler Politik oder mit seiner Rolle als Außenminister der Bundesrepublik zu vereinbaren. Als Außenminister sollte er seine Worte mit Bedacht wählen und sich als Innenpolitiker nicht wie ein Marktschreier aufführen.
Als Vizekanzler darf er die Interessen seiner Partei nicht über die des Landes stellen. Konkret erschwert er eine vernünftige Diskussion über die Zukunft des Sozialstaates.
Morgenpost Online: Ohne Westerwelle würden wir gar nicht über die Hartz-IV-Misere reden. Die Reformen haben das Problem der Dauerarbeitslosigkeit nicht beseitigt. Im Gegenteil: Das Milieu scheint sich zu verfestigen.
Biedenkopf: Ohne Westerwelle hätten wir – schon dank Bundesverfassungsgericht – eine zielführende Debatte. Im Übrigen: Langzeitarbeitslosigkeit gibt es in allen hoch industrialisierten Ländern. Mit der notwendigen Steigerung der Produktivität wächst der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitnehmern und die Ansprüche an ihre Qualifikation. Einem Teil der Bevölkerung fehlen diese Voraussetzungen. Sie sind deshalb auf einfachere Arbeit angewiesen. Die wird vielfach nicht zu Löhnen angeboten, die ausreichend höher sind als Hartz IV. Und wir zollen der einfachen Arbeit keinen Respekt. Niemand kommt auf die Idee, Straßenkehrer, Fensterputzer oder Gebäudereiniger zu sagen: Danke, dass Sie diese Arbeit machen! Wir bedauern sie vielmehr. Einfache Arbeit muss jedoch ebenso anerkannt werden wie Forschungsarbeit oder die Leitung eines Unternehmens. Andernfalls bleiben gering Qualifizierte ausgegrenzt – außer in der Schattenökonomie.
Morgenpost Online: Kann ein Mindestlohn helfen? Dann würde einfache Arbeit besser bezahlt.
Biedenkopf: Mindestlöhne können Arbeitsplätze auch vernichten. Der Friseurmeister gibt seinen Mitarbeitern einen Stundenlohn von fünf Euro, nicht weil er sie ausbeutet, sondern weil seine Kunden nicht bereit sind, mehr zu zahlen. Setzt der Staat im Friseurgewerbe einen Mindestlohn von 7,50 Euro oder mehr fest, werden viele Kunden sich selbst helfen. Die notwendigen Geräte gibt es in jedem Kaufhaus. Oder sie fragen ihre Haarpflege in der Schattenwirtschaft nach und lassen sich die arbeitslos gewordene Friseuse nach Hause kommen. Die florierende Schwarzarbeit zeigt, dass der Bedarf nach bezahlbaren Dienstleistungen groß ist.
Morgenpost Online: Wäre eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger sinnvoll?
Biedenkopf: Man kann niemanden zur Arbeit zwingen. Das verbietet bereits unsere Verfassung.
Morgenpost Online: Was soll der Staat dann machen?
Biedenkopf: Das Problem muss dort gelöst werden, wo die Menschen sind. Wir brauchen dezentrale Lösungen. Die Betreuung von Langzeitarbeitslosen lässt sich zentral für ganz Deutschland nicht effizient organisieren. Die Kommunen müssen eigenverantwortlich handeln können. Die Bundesagentur sollte sich darauf beschränken, professionelle Unterstützung zu gewähren. Vor Ort kennt man die Betroffenen. Dort kann man die nötige soziale Kontrolle ausüben und Bürger gewinnen, sich durch Ehrenarbeit zu beteiligen. Vielfach geschieht dies bereits. Die Arbeitsmarktpolitik würde durch einen kreativen Wettbewerb unter den Kommunen bereichert. Dafür brauchen diese neben den Kompetenzen aber auch Geld. Doch die Städte und Gemeinden sind finanziell völlig ausgezehrt. Sie haben kaum Handlungsspielräume. Selbst charismatischen Bürgermeistern gelingt es deshalb kaum, die Zivilgesellschaft der Kommunen an der Lösung der Aufgabe wirksam zu beteiligen.
Morgenpost Online: Der Bürger soll seinen arbeitslosen Nachbarn an die Hand nehmen? Auf diese Idee ist bislang kaum ein Arbeitsexperte oder Sozialpolitiker gekommen.
Biedenkopf: Es gibt schon Ansätze. Der Bezirksbürgermeister des Berliner Problembezirks Neuköln, Heinz Buschkowsky, hat Frauen, die sich engagieren wollten, Patenschaften für sozial schwache Schüler vermittelt. Das ist eine Erfolgsgeschichte. So etwas ist auch bei Langzeitarbeitslosen sinnvoll, die es zunehmend schwer haben, sich selbst zu helfen. Man muss die Verantwortung nach unten geben. Das Problem ist, dass wir die Bürger in den ver-gangenen 40 Jahren davon überzeugt haben, der Staat übernehme und regele das alles für sie und sie hätten deshalb keine zusätzliche Verpflichtungen gegenüber ihren Hilfe bedürftigen Mitbürgern. Nur lernen wir heute: der Staat kann das Engagement der Zivilgesellschaft nicht ersetzen.
Morgenpost Online: Liegt hierin der Kern der Sozialstaatskrise?
Biedenkopf: Zu einem wesentlichen Teil. Unsere Sozialsysteme sind zentralistisch organisiert. Die Leistungsempfänger sind die „kleinen Leute“. Vater Staat kümmert sich um ihre Bedürfnisse. Die Beitragszahler werden ebenso bevormundet. Über die Jahrzehnte hat sich so eine Leistungsempfänger-Mentalität entwickelt, die wir im Westen ebenso antreffen wie in den ostdeutschen Ländern. In der sozialen Ordnung sind mit den Sozialversicherungen und Sozialverbänden machtvolle Besitzstände entstanden, die ihre Macht verteidigen: die Macht des Vormunds. Sie zeigen wenig Interesse daran, den Sozialstaat zugunsten dezentraler Strukturen und eines stärkeren Engagements der Zivilgesellschaft zu begrenzen. Es wird jedoch keine nachhaltige Reform des Sozialstaates und seiner gegenwärtigen Ordnung geben, so lange es nicht gelingt, das bestehende Sozialkartell zu überwinden.
Morgenpost Online: Wie soll die Politik solche Veränderungen in Gang setzen?
Biedenkopf: Indem wir uns nicht auf den Ruf nach dem Staat oder der Politik beschränken! Allein von ihnen können wir die Bewältigung der Probleme nicht erwarten. Denn „die Politik“ ist selbst Teil des Sozialkartells, das auf seine Macht und deren Möglichkeiten kaum verzichten wird. Die Bürger müssen die Politik – konkret den Abgeordneten in Bund und Land – unterstützen und selbst Veränderungen in Gang setzen. Sie müssen sich aus der Vormund-schaft des Sozialstaates befreien. Der „kleine Mann ist groß geworden“!
Morgenpost Online: Nach dem Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz IV wird jetzt über eine Erhöhung debattiert. Geht das in die genau falsche Richtung?
Biedenkopf: Die Langzeitarbeitslosen aktiviert man in der Tat nicht mit noch mehr Geld. Im Gegenteil. Wir brauchen Menschen, die den Betroffenen zeigen, wie sie sich richtig bewerben oder wie man sie bei der Kindererziehung unterstützt. Das kann der Staat nicht. Dazu sind die Fälle viel zu verschieden. Deshalb brauchen wir die Zivilgesellschaft.
Morgenpost Online: Viele Menschen sitzen auch deshalb in der Hartz-IV-Falle, weil es finanziell oft nicht attraktiv ist, eine einfache Vollzeitarbeit anzunehmen. Sind die Anreize falsch gesetzt?
Biedenkopf: Das Problem ist auch hier oft nicht das Geld. In einer Kleinstadt mit Bürgergeist und -verantwortung stellt sich diese Frage so nicht. Hier klappt das Prinzip des Förderns und Forderns. Vor allem in Großstädten zeigt sich dagegen, dass die Anonymität des Sozialstaats die personale Solidarität erstickt. Deshalb müssen wir zurück zu kleineren Verantwortungsbereichen. Das geht auch in großen Städten. In unserer alternden Gesellschaft werden wir ohne personale Solidarität nicht menschenwürdig überleben. Doch wenn von einer solchen “Reprivatisierung“ durch personale Solidarität die Rede ist, lösen die sozialen Bürokratien und ihre politischen Repräsentanten Stürme der Entrüstung aus. Sie reden von „Sozialabbau“ und der Zerstörung des Sozialstaates. Wer trennt sich schon gerne von etablierter Macht?
Morgenpost Online: Was passiert, wenn es nicht zu Veränderungen kommt?
Biedenkopf: Wenn nichts geschieht, wird sich der Sozialstaat heutiger Prägung selbst zerstören. Seit Jahrzehnten wachsen die Sozialausgaben stärker als die Wirtschaft. Schon jetzt machen sie mehr als 30 Prozent der gesamten Wertschöpfung unseres Landes aus. Gut zwei Drittel des Bundeshaushaltes sind Sozialausgaben. Wir geben weit mehr aus für den Sozialstaat, also für Gegenwart und Vergangenheit, als für unsere Zukunft: für Schulen, Bildung, For-schung und die Entwicklung neuer Technologien. Das ist ohne Sinn. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Menschen, die den gegenwärtigen Sozialstaat mit ihren Beiträgen und Steuern finanzieren, irgendwann sagen: Jetzt ist es genug, mehr ist von uns nicht zu erwarten. Hoffentlich kommt es nicht zu diesem Punkt.
Noch ist Zeit für evolutionäre Veränderungen. Aber sie werden nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, zwischen staatlicher und personaler Solidarität wieder ein vernünftiges Ver-hältnis zu entwickeln: Der Staat für die Grundsicherung gegen Lebensrisiken, die personale Solidarität im Bereich der Vielfalt des Lebens und der Schicksale, denen keine zentrale Institution gerecht werden kann. Das heißt: Sozialstaat und Zivilgesellschaft nicht gegeneinander, sondern miteinander.
Kurt Biedenkopf (CDU) war von 1990 bis 2002 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen.