Guido Westerwelle hat die Frage beantwortet, welche Tätigkeiten bei Hartz IV zumutbar seien. Schneeschippen zählt er dazu. Jeder, der jung und gesund sei und keine Angehörigen zu betreuen habe, müsse zumutbare Arbeit annehmen. Arbeitsministerin von der Leyen ist derweil müde vom “römischen Schlachtgetümmel“.
Im Streit über den Sozialstaat und die missachtete Mitte in Deutschland hat FDP-Chef Guido Westerwelle noch einmal nachgelegt. Trotz des Appells der Kanzlerin zur Mäßigung wiederholte er in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ ausdrücklich seine umstrittene These: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“
Er habe mit keiner Silbe einem einzigen Bezieher von Hartz IV etwas vorgeworfen, betonte der Vizekanzler und Bundesaußenminister. Seine Kritiker, „die solch üble Unterstellungen über mich verbreitet haben“, sollten sich dringend bei den Hartz-IV-Empfängern entschuldigen, forderte Westerwelle. Zugleich sprach er sich dafür aus, dass junge Sozialleistungsempfänger zum Schneeschippen eingesetzt werden. Jeder, der jung und gesund sei und keine Angehörigen zu betreuen habe, müsse zumutbare Arbeit annehmen. „Wer sich dem verweigert, dem müssen die Mittel gekürzt werden.“
Die Frage, ob er die Kanzlerin vorab über seine Thesen informiert habe, verneinte er. „Ich bin der Vorsitzende der FDP mit einer eigenen Meinung.“ Das Verhältnis zu Angela Merkel sei ungetrübt, sagte Westerwelle.
Merkel hatte gerügt, die Äußerungen Westerwelles seien nicht ihre Wortwahl. In ihrer wöchentlichen Videobotschaft sagte sie, die Regierung wolle die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neuberechnung der Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger zum Anlass nehmen, die Bildungschancen von Kindern zu verbessern. Nach Merkel distanzierte sich auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) von Westerwelle. Pauschale Vorwürfe führten nicht weiter, sagte sie in einem Doppelinterview mit der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, dem „Tagesspiegel am Sonntag“. „Das römische Schlachtgetümmel sollte ein Ende haben“, fügte sie hinzu.
Zur FDP-Forderung nach einem härteren Vorgehen gegen „Leistungsverweigerer“ sagte die Ministerin: „Natürlich gibt es auch Missbrauch bei Hartz IV, aber nicht massenhaft.“ So würden in weniger als drei Prozent der Fälle Sanktionen ausgesprochen. Im internationalen Vergleich ermögliche Hartz IV zudem die strengsten Sanktionen.
Bischöfin Käßmann warf Westerwelle vor, mit seinen Äußerungen Vorurteile über Hartz-IV-Empfänger zu verbreiten. Dies sei „gefährlich“, sagte die Bischöfin dem Blatt. „Man sollte nicht so tun, als ob alle Hartz-IV-Empfänger Schmarotzer sind, die nicht arbeiten möchten“, kritisierte Käßmann. Es sei „traurig“, wie derzeit in Deutschland über Langzeitarbeitslose geredet werde. „Die Starken in der Gesellschaft sollten dankbar sein, dass sie die Kraft haben zu geben“, meinte Käßmann.
Aus der Opposition kam erneut scharfe Kritik an Westerwelle. „Guido Westerwelle ist ein Zyniker, weil er Geringverdiener gegen Arbeitslose in Stellung bringt, um von den wahren Sozialbetrügern abzulenken, die Millionen an der Steuer vorbei ins Ausland schaffen“, sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles der „Frankfurter Rundschau“. Die FDP habe mit ihrer Blockade von flächendeckenden Mindestlöhnen bewusst dazu beigetragen, dass in vielen Branchen Niedriglöhne unter Hartz-IV-Niveau gezahlt würden. Die ganze Diskussion sei doppelzüngig: Man beklage Zustände, die man selber mit herbeigeführt habe, biete aber keine Lösung an. Grünen-Chefin Claudia Roth warnte in der „Welt am Sonntag“ vor einer „sozialen Eiszeit“: „Union und FDP wollen dem Sozialstaat schrittweise den Garaus machen, um ihre Klientelgruppen weiter bedienen zu können.“
Unterstützung bekam der FDP-Chef dagegen vom Wirtschaftsflügel der Union. Es muss klar sein, dass sich niemand in den Sozialsystemen ausruhen darf“, sagte der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung, Josef Schlarmann, der „Leipziger Volkszeitung“. Der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, Kurt Lauk, verlangte von Merkel in der „Wirtschaftswoche“ Einsparungen im Sozialetat und einen klaren Reformkurs. Die CDU müsse die sozialistischen Fesseln der großen Koalition ablegen.
Sozialpolitiker der Union hielten dagegen. Der Experte der Bundestagsfraktion, Karl Schiewerling (CDU), lehnte pauschale Sozialkürzungen ab. „Ich halte das für ziemlich abwegig, in der jetzigen Situation die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, denjenigen aufzuhalsen, die von Sozialhilfe abhängig sind.“ Für die Christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) sagte deren Vize Christian Bäumler: „Was mich an Westerwelle ärgert, ist, dass er Stimmung gegen sozial Schwache macht, ohne konkret zu sagen, was er verändern will.“