Grünen-Chef Cem Özdemir wohnt in Berlin-Kreuzberg. Bald könnte in dem Gebäude eine Fixerstube Platz finden. Jetzt sitzt Özdemir in der Klemme: Soll er der Grünen-Linie folgen, die Fixerstuben befürwortet? Oder soll er sich mit Anwohnern solidarisieren, die dem Viertel neue Schwierigkeiten ersparen wollen?

Wo Politiker wohnen und was im Haus passiert, geht die Öffentlichkeit nichts an. Das gilt auch für Cem Özdemir, der im Berliner Stadtteil Kreuzberg lebt. Doch beim Grünen-Chef hat das Wohnen auch mit Politik zu tun, und das ist ihm bewusst: „Meine Frau und ich“, sagte der Vater einer Tochter unlängst Morgenpost Online, „haben es uns gut überlegt, als wir nach Kreuzberg gezogen sind. Wir fühlen uns dort wohl, und gerade als Befürworter der multikulturellen Gesellschaft muss ich mich dafür einsetzen, dass sich die Dinge in die richtige, tolerante und wirtschaftlich tragfähige Richtung entwickeln.“ Und dieses Programm hat Özdemir auch im von ihm bewohnten Haus zu verfolgen.

Denn just in diesem Haus – nahe dem Kottbusser Tor – spitzen sich nun schon zum zweiten Mal Konflikte zu, die direkt die politischen Positionen des türkischstämmigen Europa-Abgeordneten betreffen. Zunächst gab es dort eine jahrelange Auseinandersetzung um kurdische Café- und Gebetsräume, in denen die PKK erheblichen Einfluss hatte. Özdemir befand sich im Zwiespalt. Einerseits lehnt er die autoritäre PKK-Militanz ab und sah auch die Belastungen der Hausgemeinschaft durch die vielen Besucher jener Einrichtungen. Andererseits unterstützt er die politischen Anliegen gemäßigter Kurden und fordert mehr Toleranz gegenüber islamischer Religionsausübung.

Nun steht der nächste Streit ins Haus. Denn wenn das Café demnächst auszieht, sollen dessen Räume von einer Fixerstube übernommen werden, wo Heroin-Abhängige saubere Spritzen erhalten. Das bedeutet für Özdemir einen gleich doppelten Konflikt. Zum einen nämlich gibt es Ärger mit Özdemirs Parteifreund Franz Schulz, der als grüner Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg unlängst ankündigte, nach der Schließung einer anderen Fixerstube den Ersatz just in diesem Haus zu schaffen.

Angeblich tat dies Schulz, ohne die Hausbewohner gefragt zu haben, deren Vertreter von der Aussicht auf die Fixerstube nicht gerade begeistert sind. Im Hof ist ein Spielplatz, einige Familien haben kleine Kinder. Özdemir hält sich in dem Streit zwischen dem grünen Bürgermeister Schulz und seinen ansonsten durchaus Grünen-freundlichen Nachbarn zurück und sagte der „B.Z.“ nur, es müsse „eine Lösung unter Einbeziehung der Anwohner gefunden werden“.

Doch steht Özdemir hier auch in einem allgemeineren Konflikt. Einerseits nämlich setzen sich die Grünen für Fixerstuben als sozialarbeiterische Hilfen bei Schwerstabhängigkeit ein. Andererseits bedeutet die Konzentration von Heroin-Abhängigen mit der oft dazugehörigen Kriminalität und Verwahrlosung eine massive Bedrohung für Gegenden, in denen, wie in Kreuzberg, viele Migranten leben.

Özdemir hat immer wieder davor gewarnt, ausgerechnet in solchen Vierteln auch alle übrigen sozialen Probleme von Großstädten abzuladen, weil dadurch die Perspektiven von Migranten weiter geschmälert würden. Erst am Dienstagabend sagte er im Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), dass man den Kindern von Einwanderern bessere Aufstiegschancen eröffnen und leistungsbereite Vorbilder vermitteln müsse. An Drogenabhängige wird er dabei nicht gedacht haben.

Doch während Özdemir solcherart die Interessen der Kreuzberger Türken-Mittelschicht im Blick hat, schlägt dieser Mittelschicht von manchen Linken und potenziellen Grünen-Wählern im Stadtteil massiver Widerstand entgegen. Betroffen davon ist auch die unlängst gegründete „Initiative Kottbusser Tor“, der viele bürgerliche Türken angehören und die dort vor einer Woche für ein „dealerfreies Kreuzberg“ demonstrierte. Da riefen linke Gegendemonstranten „Junkies bleiben, Yuppies vertreiben“.

Dahinter steht der oft bizarre linke Widerstand gegen die angebliche „Gentrifizierung“ Kreuzbergs, womit die Verdrängung der Unterschicht durch zahlungskräftigere Mieter gemeint ist. Diese „Yuppies“, die oft selbst grün wählen und deshalb als „Bionade-Bourgeoisie“ beschimpft werden, gelten manchen Linken als weit schlimmer denn Dealer und Schwerstabhängige. Deshalb, so forderten Linke im Internet, solle man gebrauchte Spritzen auf die Demonstranten von der „Initiative Kottbusser Tor“ werfen. Özdemir indes konterte die „Yuppie“-Vorwürfe und fragte im „Tagesspiegel“: „Wie darf man das verstehen? Solange die Eltern kein Deutsch können und sich nicht wehren, ist alles okay, aber sobald sich manche zum ersten Mal in ihrem Leben organisieren, sind sie gleich Yuppies, oder wie?“

Özdemir will im Konflikt, der ihn jetzt direkt an der Haustür betrifft, vermitteln. Am Freitag moderiert er in Kreuzberg eine Veranstaltung der Initiative „Drogen weg vom Kottbusser Tor“. Die Diskussion trägt den Titel: „Wir sind nicht das Arschloch von Berlin“.