Ein hessisches Jugendamt hat einen gewalttätigen 16-Jährigen nach Sibirien geschickt. Der Junge aus Gießen soll unter extremen Witterungsbedingungen und durch harte körperliche Arbeit lernen, seine Aggressivität zu kontrollieren, bestätigte das Kreisjugendamt.
Der Junge sei wiederholt extrem auffällig geworden, sagte Stefan Becker, der Jugend- und Sozialdezernent des Landkreises Gießen. Unter anderem sei der 16-Jährige in der Schule, im Heim und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durch Gewalt aufgefallen. Dabei seien mehrere erwachsene Betreuer verletzt worden. Auch seine Mutter habe er angegriffen. Das Jugendamt des Kreises habe nur noch eine Möglichkeit gesehen: den Aufenthalt in Sibirien. "Das ist für ihn die letzte Chance", sagte Becker.
Er begründete die Entscheidung für Sibirien damit, man habe nach einem "möglichst reizarmen Gebiet" gesucht. Die Umgebung dort sei weit abgeschieden von der Zivilisation, ohne Internet, Fernsehen und weitgehend ohne Telefon. Auch fließendes Wasser gebe es in der Unterkunft des Jungen nicht, der dort "in dörflicher Umgebung" lebe.
Laut Hessischem Rundfunk muss der 16-Jährige unter diesen Bedingungen für sich selber sorgen. "Wenn er es warm haben will, muss er sein Feuerholz selbst hacken", heißt es in einem Bericht des Senders. Jugenddezernent Becker bestätigte, der Teenager sei "weitgehend mit seiner täglichen Daseinsvorsorge" beschäftigt. Ein Plumpsklo habe er sich bereits gebaut. Um zur Schule zu kommen, muss er bei minus 40 Grad täglich 2,5 Kilometer zu Fuß gehen. Der Betreuer des Jungen spricht Russisch und hilft ihm, den Unterricht zu verfolgen.
Der Sibirienaufenthalt gilt nach Angaben des Jugendamtes als erlebnispädagogische Maßnahme. Prinzip der Erlebnispädagogik ist es, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, anhand bestimmter Situationen Verhaltensweisen zu lernen, die sie bisher nicht beherrschen. Das geht allerdings nur, wenn die Teilnehmer freiwillig mitmachen. Auch der Gießener Junge und seine Mutter haben dem Sibirienaufenthalt zugestimmt. "Dort muss er sich ganz auf seinen Betreuer konzentrieren", sagte Becker. "Er kann sich nicht in den Kontakt zu anderen flüchten." So lerne der Schüler, sich mit seinem Gegenüber auseinanderzusetzen und Konflikte zu lösen.
Dass Hessens Jugendämter solche Methoden anwenden, ist nicht ungewöhnlich. Im Kreis Gießen gab es in den vergangenen Jahren noch zwei vergleichbare Fälle, auch andere Jugendämter setzen gelegentlich auf Erlebnispädagogik. Der Sibirienaufenthalt soll ein Dreivierteljahr dauern, insgesamt ist die ganze Maßnahme auf zwei Jahre angelegt. Dazu gehörte bereits die Vorbereitung auf die Reise, anschließend soll der Jugendliche mit Hilfe seines Betreuers nach und nach an ein neues Leben in Deutschland herangeführt werden.
Die Kosten für den Russland-Aufenthalt liegen bei etwa einem Drittel dessen, was ein Heimplatz in Deutschland gekostet hätte. Bezahlt werden müssen demnach vor allem der Betreuer des 16-Jährigen und die Reisekosten für beide, zusammen etwa 150 Euro pro Tag. Ein Allheilmittel sei diese Methode aber nicht, betonte Becker: "Das ist eine Maßnahme, für einen Schüler, weil sie in diesem Fall angebracht ist."
Kurz vor Weihnachten reiste eine Mitarbeiterin des Jugendamtes nach Sibirien – eine abenteuerliche Tour, berichtet Becker: "Sie ist nach Moskau geflogen, dann weiter nach Omsk, dann in einem klapprigen Auto einige Stunden weiter bis ans Ziel." Immerhin habe ihre Unterkunft im Örtchen Sedelnikowo ein Badezimmer gehabt. Was sie vom Verhalten des 16-Jährigen sah, lässt Becker hoffen. Man wolle, sagt er, langfristig der Gesellschaft Schaden wie auch Kosten ersparen: "Bisher sind die Zeichen positiv."