GAU in Fukushima

"Diese Katastrophe wurde von Menschen verursacht"

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Norbert Lossau

Foto: dpa

Die radioaktiv belasteten Regionen um Fukushima werden für Jahrhunderte unbewohnbar sein. Neue Schäden könnten zu einer weiteren Freisetzung von Radioaktivität führen.

Naoto Kan war japanischer Ministerpräsident, als im März 2011 eine dreifache Katastrophe den Inselstaat in Fernost heimsuchte: Erdbeben, Tsunami und GAUs in Fukushima. Und es waren die Ereignisse rund um die havarierten Reaktoren des Kraftwerksbetreibers Tepco, die letztlich zum Rücktritt Kans führten.

Kan übernahm im August 2011 die politische Verantwortung dafür, dass die Bevölkerung nicht schnell genug über die Ereignisse in Fukushima und deren Konsequenzen informiert wurde – und auch dafür, dass das System zur Messung von Radioaktivität offenbar mangelhaft war.

Rückblickend macht Kan als Ursache für die nukleare Katastrophe von Fukushima „menschliches Versagen“ aus. Auf dem World Economic Forum von Davos sagte Kan: „Das war keine Naturkatastrophe und auch kein technisches Versagen. Diese Katastrophe wurde von Menschen verursacht.“ An drei Punkten macht er dies fest. Erstens wurde das Tsunami-Risiko schlichtweg unterschätzt. Statt die Reaktoren 35 Meter über dem Meeresspiegel zu errichten, begnügte man sich seinerzeit mit zehn Metern. Das war offensichtlich zu wenig.

Schlüsselfertig übernommen

Zweitens hätten die Tepco-Mitarbeiter zu wenig Wissen über die inneren Strukturen und Details der Reaktoren gehabt, weil sie diese „schlüsselfertig“ von General Electric übernommen hätten und es bei dieser Übergabe einen Informationsverlust gab. Drittens habe es in Japan einen breiten Konsens darüber gegeben, dass Kernkraftwerke völlig sicher seien. Die Experten, die Journalisten und die Bevölkerung hätten das so gesehen. Ein kollektiver Irrtum.

In Fukushima war es durch den Ausfall der Kühlung gleich in drei Reaktoren zu einer Kernschmelze gekommen. Weil überdies Wasserstoff-Explosionen die Dächer der Reaktorgebäude wegsprengten, konnten radioaktive Substanzen aus den Brennstäben in die Umwelt gelangen – unter anderem Jod-131, Cäsium-134, Cäsium-137 und Plutionium-239. Es wurden Sperrzonen eingerichtet und 80.000 Menschen umgesiedelt. Sie werden wohl nie mehr in ihre Heimat zurückkehren können.

Das Schlimmste, was nach der Reaktorkatastrophe zu befürchten stand, blieb den Japanern erspart. Mehrfach drohten die Winde eine radioaktive Wolke direkt auf Tokio zuzutreiben. Doch dazu kam es nicht. „Es lag im Bereich des Möglichen, dass man Tokio hätte evakuieren müssen“, erinnert sich Kan. Doch man möchte sich nicht vorstellen, was dies für die 35 Millionen Menschen im Großraum Tokio bedeutet hätte.

Rund 80 Prozent der aus den Reaktoren von Fukushima freigesetzten Radioaktivität wurden vom Wind hinaus auf den Pazifik geweht. Auch mit dem Kühlwasser gelangten große Mengen radioaktiver Substanzen ins Meer.

Nachdem der Tsunami zum Ausfall aller Kühlsysteme geführt hatte, war eine improvisierte Kühlung der Reaktordruckgefäße und der darin enthaltenden Brennstäbe das oberste Gebot, um eine unkontrollierte nukleare Kettenreaktion zu unterbinden. Eine Kernschmelze konnte dennoch nicht verhindert werden. Der Meeresboden vor der Küste Fukushimas ist sehr hoch radioaktiv belastet, sodass Tepco ein Betonieren des Meeresbodens mit einer 60 Zentimeter dicken Schicht plant.

Während anfangs das zum Kühlen der heiß laufenden Reaktoren genutzte Wasser einfach ins Meer floss, gelang es später den Technikern vor Ort, das radioaktiv belastete Wasser aufzufangen und in Tanks zu lagern.

Auf dem Gelände des Kernkraftwerks Fukushima lagern derzeit mehr als 120.000 Tonnen kontaminiertes Wasser in rund 1000 Tanks sowie in einem schwimmenden Container. Und es muss weiter gekühlt werden, da die Brennstäbe noch immer Nachwärme produzieren. Täglich werden mehr als eine halbe Million Liter Wasser in die havarierten Reaktoren gepumpt.

Immerhin fließt dieses Wasser inzwischen mit Temperaturen von deutlich unter 100 Grad Celsius aus den Reaktoren zurück. Es entsteht also kein Wasserdampf mehr, mit dem radioaktive Partikel in die Luft katapultiert werden könnten. Im Dezember 2011 hatte Tepco diese erfreuliche Nachricht mit den Worten verbreitet, es sei eine Kaltabschaltung der Reaktoren gelungen.

Das Wort „Kaltabschaltung“ könnte suggerieren, dass die Gefahr nun gebannt sei – die Reaktoren abgeschaltet und eben auch kalt seien. Doch so ist es nicht. Die Brennstäbe produzieren noch immer Wärme, und wenn die Kühlung – aus welchen Gründen auch immer – erneut ausfallen sollte, müsste wieder mit kritischeren Zuständen gerechnet werden.

Erst vor wenigen Wochen hatten eingefrorene Versorgungsschläuche für Engpässe bei der Kühlung gesorgt. Insbesondere ein erneutes Erdbeben könnte die Kühlung stoppen. Zwar hat man jetzt – das ist schon eine Lernkurve – die Kühlwasserpumpen auf einer Anhöhe und damit hoffentlich Tsunami-sicher positioniert, doch der Wasserfluss könnte auch durch einstürzende Gebäudeteile unterbrochen werden. Neue Schäden könnten überdies zu einer weiteren Freisetzung von Radioaktivität führen.

Damit genau dies möglichst unterbunden wird, hatte man in Japan die Idee, Leichtbaukonstruktionen über die offenen Reaktorgebäude zu spannen und Luft nur über Filter nach außen treten zu lassen. Beim Reaktor Nr. 1 wurde dies schon umgesetzt, bei den ebenfalls havarierten Reaktorgebäuden Nr. 2, 3 und 4 steht das noch aus.

Derartige Schutzhüllen wären das Mindeste, um von einer Stabilisierung der Situation sprechen zu können. Die im Sommer 2011 diskutierte Möglichkeit, einen Sarkophag nach dem Vorbild von Tschernobyl über den Reaktoren zu errichten, wurde zunächst verworfen. Sollte sich das Konzept mit den Leichtbaukonstruktionen jedoch nicht bewähren, werden die Japaner vielleicht doch noch das Einbetonieren der Reaktoren in Erwägung ziehen müssen.

Schöner wäre es natürlich, die vier Unglücksreaktoren zurückzubauen, sodass es dort am Ende die viel zitierte „grüne Wiese“ statt mahnmalgroßer Betonkolosse geben würde. Selbst nach der optimistischen Einschätzung von Tepco wäre dies jedoch nicht vor 2060 umsetzbar. Zunächst muss die Nachwärme der Brennstäbe und der Kernschmelzen abklingen, bevor sie unter Wasser geborgen werden könnten. Sie zu entfernen wird mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen. Fukushima wird für Japan noch sehr lange teuer bleiben.

Abgesehen von allen finanziellen Schäden und den Engpässen in der Stromversorgung, unter denen die Japaner seit dem Unglück zu leiden haben – 52 von 54 Kernkraftwerken sind abgeschaltet –, ist natürlich die wichtigste Frage jene nach den gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung.

Manche Menschen sind hierzulande geradezu erstaunt darüber, dass die nukleare Katastrophe von Fukushima kein einziges Todesopfer gefordert haben soll. Doch in Japan sind offenbar keine Menschen einer so hohen Strahlenbelastung ausgesetzt worden wie jene sogenannten Liquidatoren, die nach dem Unglück von Tschernobyl direkt am offenen Reaktor Aufräumungsarbeiten geleistet hatten. Bei vielen von ihnen trat die „akute Strahlenkrankheit“ auf, die innerhalb weniger Tage zum Tode führt.

Die biologische Wirkung niedriger, nur leicht oder mäßig erhöhter Strahlenwerte im Vergleich zur natürlichen Strahlenbelastung in der Umwelt ist jedoch viel schwieriger quantifizierbar. Viele Fragen sind hier wissenschaftlich noch nicht geklärt, etwa die, ob es einen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Radioaktivität definitiv ungefährlich ist.

Die Evolution hat unter dem ständigen Einfluss der natürlichen Radioaktivität stattgefunden. Mutationen werden auch durch Strahlung ausgelöst. Da kann es also „gute“ Mutationen geben, die dem Fortgang der Evolution dienen, doch es gibt eben auch Veränderungen, die zum Entstehen von Krebszellen führen. Der menschliche Organismus verfügt über Abwehrstrategien gegen solche „fremden“ Zellen, die in aller Regel eliminiert werden, bevor sie gefährlich werden können. Daher erkranken nicht alle Menschen an Krebs, obwohl in jedem Körper täglich Krebszellen entstehen.

Doch offenbar können die zellulären Reparaturmechanismen überfordert sein, wenn etwa die Körperabwehr geschwächt ist oder durch Strahlung zu viele Schäden entstanden sind. Durch die von radioaktiven Substanzen ausgesandte Strahlung kann also die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, an Krebs zu erkranken.

In der Gruppe jener Menschen, die seit dem Reaktorunglück von Fukushima einer erhöhten Strahlung ausgesetzt gewesen waren oder auch noch sind, wird es nach wissenschaftlichem Kenntnisstand wohl einige zusätzliche Krebsfälle geben. Doch man wird nie einzelne Opfer benennen können, von denen man definitiv sagen könnte: Dieser Mensch hätte ohne das Unglück von Fukushima keinen Krebs bekommen.

Wissenschaftlicher Beweis schwierig

Wenn in einer Bevölkerungsgruppe ohne das Unglück im statistischen Mittel 100 Menschen an einer bestimmten Form von Krebs erkranken und es mit den Folgen des Unglücks dann vielleicht 102 oder 103 sind, kann man zum einen nicht sagen, wer die zwei oder drei zusätzlichen Fälle sind. Zum anderen ist es überaus schwierig, den Anstieg der Fallzahlen wissenschaftlich zu beweisen.

Forscher nutzen in der Regel lineare Modelle, bei denen sie von der besser nachvollziehbaren Wirkung größerer Strahlendosen ausgehen. Die wichtigsten Erkenntnisse dazu „verdankt“ die Wissenschaft makabrerweise den Atombombenabwürfen über Japan.

Aber nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl ist doch eine signifikant erhöhte Zahl von Krebserkrankungen der Schilddrüse aufgetreten. Wie lässt sich dann das erklären?

Es ist ein großer Unterschied, ob ein Organismus einer von außen kommenden Strahlung ausgesetzt ist oder ob sich die Strahlenquelle im Inneren des Körpers befindet. Das in Tschernobyl in großen Mengen freigesetzte radioaktive Jod-131 wurde von Menschen in der Region aufgenommen, wobei dieses chemische Element die Eigenschaft hat, sich in der Schilddrüse anzureichern. Dort strahlt es dann quasi vor Ort, was zu sehr hohen lokalen Strahlendosen führt – und damit zu einem hohen Risiko für Schilddrüsenkrebs.

Andererseits ist Schilddrüsenkrebs sehr gut heilbar, sodass rund um Tschernobyl einer hohen Zahl von Erkrankungen keine entsprechend hohen Todesfallzahlen gegenüberstanden.

In Japan waren die freigesetzten Mengen an Jod-131 und die Windverhältnisse in den ersten Tagen nach dem Unglück offenbar so, dass nicht viele Menschen von hohen Jodkonzentrationen betroffen gewesen sind. Jod-131 besitzt nur eine Halbwertszeit von acht Tagen, sodass sich die Problematik mit diesem radioaktiven Element innerhalb weniger Wochen von alleine löst.

Schutz vor strahlenden Isotopen

Ernster ist da die Problematik mit dem radioaktiven Cäsium-137 und seiner Halbwertszeit von rund 30 Jahren. Noch heute sind viele Wildschweine in Bayern durch radioaktives Cäsium aus Tschernobyl so belastet, dass sie nicht für den Verzehr geeignet sind. In Japan kommt es also darauf an, Regionen mit einer zu hohen Cäsium-Konzentration nicht landwirtschaftlich zu nutzen, sodass die strahlenden Isotope nicht mit der Nahrung in den menschlichen Körper gelangen können.

Früher oder später werden gewiss wissenschaftliche Studien vorgelegt werden, in denen auf der Grundlage aller verfügbaren Daten eine Abschätzung vorgenommen wird, wie viele zusätzliche Todesfälle – oder besser: wie viele verloren gegangene Jahre an Menschenleben – dem Unglück von Fukushima angelastet werden müssen. Doch zu diesen Zahlen wird es keine Gesichter geben. Die Opfer von Fukushima bleiben anonym.