Die Straßen sind verlassen wie in einem Western, bevor der Bösewicht auftaucht, Rollläden sind heruntergezogen. 45.000 Einwohner sind aus dem Stadtgebiet von 1800 Metern Radius geflohen, das die Riesenbombe im Rhein niederreißen würde, wenn etwas schiefgeht. Im Umkreis von 50 Metern würde jedes Haus einstürzen, die Splitter würden Hunderte von Metern weit fliegen. Doch davon geht niemand in Koblenz aus. Alle hoffen, dass die 1,8 Tonnen schwere britische Luftmine aus dem Zweiten Weltkrieg nicht detoniert, wenn der Kampfmittelräumdienst ihren Zünder zieht.
In Koblenz herrschte Ausnahmezustand: 2500 überwiegend ehrenamtliche Helfer aus ganz Rheinland-Pfalz sind angerückt, um knapp die Hälfte der 104.000 Einwohner aus dem Stadtzentrum zu evakuieren. Um neun Uhr mussten alle die Stadt verlassen, sind bei Verwandten oder in einer der sieben Notunterkünfte außerhalb der Sperrgrenze untergekommen.
Vier Türen wurden aufgebrochen
Am Bahnhof Koblenz hielt kein Zug mehr, die Hauptzufahrtsstraßen waren verwaist, der Schiffsverkehr stand still. Ein Hubschrauber brummte einsam über dem Evakuierungsgebiet. Koblenz glich einer Geisterstadt. Rund 1000 Helfer klingelten an jeder Haustür, um sicherzugehen, dass alle ihre Wohnungen verlassen haben. Vier mal rückte der Schlüsseldienst an, um Türen aufzubrechen. Doch die Bewohner hatten lediglich das Licht angelassen.
180 Patienten aus zwei Krankenhäusern und 200 Gefangene der Justizanstalt Koblenz verlegten Helfer schon vor Tagen auf Einrichtungen außerhalb der Sperrzone. Die 350 Bewohner von betroffenen Seniorenheimen wurden erst Stunden vor der Entschärfung aus ihren Zimmern geholt.
Denn bei vielen Senioren weckt die Räumung Erinnerungen an den Krieg. Georg Berg ist in seiner Kindheit fast jeden Tag geflohen, um sich vor Bombenangriffen zu schützen. „Ich war mehr in Luftschutzkellern als in der Schule“, sagt der 77 Jahre alte Mann.
Seit halb acht sitzt der Rentner in der Auffangstation der Clemens-Brentano-Realschule am Rande des Sperrgebiets. 12.000 Plätze haben die Helfer geschaffen, nur etwa 500 davon werden in Anspruch genommen. Georg Berg ist in Kassel aufgewachsen.
Der ausbleibende Regen verriet die Bombe
Eine Bombe hat 1942 das Haus seiner Eltern ausgebrannt. Vielleicht war es eine HC 4000, wie die gut zwei Meter lange Mine, die an diesem Tag am Rheinufer im Stadtteil Pfaffendorf unschädlich gemacht werden soll. Sie ist eine der größten Bomben, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Sie wurde bemerkt, weil es in den letzten Wochen wenig geregnet hat. Der Pegel des Rheins ist niedrig, das Wasser klar. Anwohner hatten die Luftmine vor zwei Wochen von ihrem Balkon aus entdeckt und den Fund gemeldet.
Unterdessen trifft eine 90 Jahre alte Dame in der Notfallunterkunft ein. Von ihrer Wohnung nahe dem Rheinufer ist sie durch die Dunkelheit zur Schule gelaufen. Der Wind hat wild in ihrer Föhnfrisur gestöbert. Sie wurde während des Krieges von Schwerin nach Fehmarn evakuiert.
An diesem Tag wieder alles zurücklassen zu müssen ruft Erinnerungen hervor, die sie eigentlich endlich abschließen wollte. „Ich ärgere mich darüber, dass immer wieder diese alten Bomben gefunden werden“, sagt sie, „kann man nicht einmal systematisch den Rhein absuchen und alle Blindgänger unschädlich machen?“
Nein, sagt Jürgen Wagner vom Kampfmittelräumdienst Rheinland-Pfalz. Der Rhein sei überladen mit Eisenschrott, wie Autos und Fahrrädern. Das mache eine Absuche unmöglich. Kein Mensch wisse, wie viele Blindgänger seit über 60 Jahren auf dem Grund des Rheins schlummern. Schiffe fahren über die Minen hinweg, Angler werfen ihre Ruten aus. Kein geringes Risiko für Koblenz, das während des Krieges heftig unter Beschuss geriet.
Deckung hinter einem Haus gesucht
Als Polizei und Feuerwehr mitteilen, dass die Stadt leer ist, machen sich zehn Kampfmittelräumer an die Arbeit. Schon am Morgen hatte die Feuerwehr das Wasser in dem Becken abgepumpt, das sie mit über 2000 Sandsäcken, den „Big Bags“, um die Bombe herum errichtet haben. Die Zündung muss trocken liegen.
Als Erstes entschärfen die Kampfmittelräumer eine kleinere US-Fliegerbombe, die in der Nähe entdeckt wurde. Die Männer arbeiten konzentriert, die Anspannung ist groß. Der britischen Luftmine nähern sie sich nur auf 150 Meter Entfernung. Hinter einem Haus suchen die Experten Deckung. Von dort aus schrauben sie mit einer „Seilscheibe“ den Zünder heraus. Alles geht gut.
Dann sprengen sie auch noch das Tarnnebelfass. Das Gemisch aus Schwefel und Salzsäure sollte ursprünglich in einem dicken weißen Nebel feindlichen Flugzeugen die Sicht auf die Stadt versperren. Der laute Knall beendet den Großeinsatz. Nach zwei Stunden ist alles erledigt. In den Abendstunden kehren die Einwohner in ihre Wohnung zurück.