Zu jung? Zu jung habe sie sich nie gefühlt, sagt Wiebke Herweg. Nicht mit fünf Jahren, als sie eingeschult wurde, nicht mit 17, als sie ihr Abitur machte. Nicht mit 19, als sie ein Semester in Nottingham verbrachte. Die Studentin des Wirtschaftsingenieurwesens mit Schwerpunkt Elektrotechnik an der TU Braunschweig wird sich auch nicht zu jung fühlen, wenn sie im kommenden Jahr – mit 21 – ihren ersten Abschluss in der Tasche hat, den Bachelor. Dann kommt der Master. Mit 23 steht Wiebke Herweg dann auf dem Arbeitsmarkt. „Man wächst da rein“, sagt sie.
Wiebke Herweg ist eine Ausnahme. Eine Überfliegerin, die eine Schulklasse übersprungen hat. Sehr bald aber werden blutjunge Absolventen wie sie die Regel sein. Diese Zukunft hat schon begonnen. 2010 gab es so viele Studienanfänger wie nie zuvor. Um mehr als vier Prozent ist die Quote gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 442.600 Männer und Frauen nahmen laut Statistischem Bundesamt ein Studium auf. 2009 waren es 424.300. Der Anteil der Studienanfänger an der gleichaltrigen Bevölkerung wuchs auf 46 Prozent. Und er wird weiter wachsen.
Sehr schnell. Denn nächstes Jahr werden in Bayern und Niedersachsen zwei Jahrgänge gleichzeitig ihr Abitur machen. 2012 passiert das Gleiche in Baden-Württemberg, Brandenburg und Bremen. 2013 in Nordrhein-Westfalen, 2016 in Schleswig-Holstein. Das Gymnasium dauert dann fast überall nur noch acht Jahre. Einmalig kommen im nächsten Jahr diejenigen hinzu, die wegen der Aussetzung von Wehr- und Zivildienst sofort studieren können, zwischen 40.000 und 60.000 junge Menschen. Der Altersdurchschnitt der Studenten beträgt derzeit 24 Jahre. Er wird schnell sinken. 17- und 18-Jährige werden künftig die Hochschulen bevölkern. Und es wird eng werden.
Den Studenten – den heutigen und den kommenden – ist bewusst, dass ihnen einiges bevorsteht. Deshalb suchen sie sich Verbündete: ihre Eltern. „Wir haben in den letzten Jahren bemerkt, dass die Studenten selbstverständlicher mit ihren Eltern kommen“, sagt Stefan Grob, Sprecher des Deutschen Studentenwerks. Doch nicht nur, wenn es um die Unterschrift unter einen Mietvertrag fürs Wohnheim oder um die Studienberatung geht, sind die Eltern dabei. „Bei der Erstsemesterbegrüßung sehen wir immer mehr reife Gesichter – und das sind keine Altstudenten“, sagt Elisabeth Hoffmann von der TU Braunschweig.
„Helicopter parents“ werden diese Eltern von amerikanischen Soziologen genannt – wie ein Überwachungshubschrauber kreisen sie über ihren Schützlingen. „Das Studium ist zu einer Familienangelegenheit geworden. Die junge Studentengeneration ist behüteter, braver, aber auch konstruktiver“, sagt Hoffmann. „Es ist eine eher farblose Generation mit wenig Ecken und Kanten“, fügt der Soziologe Tino Bargel hinzu: „Sie denkt bewusst an ihre Zukunft und passt sich an.“
Haben sich frühere Generationen mit dem Abitur vom Elternhaus abgenabelt, verschiebt sich dieser Prozess auf die Zeit nach dem Studium. Zum einen, weil sich das Verhältnis Eltern/Kind heute trotz Pubertät weniger konfrontativ gestaltet. Zum anderen sind Eltern als Bildungsplaner ein wichtiger Faktor. 12?000 Studiengänge gibt es seit der Einführung von Bachelor und Master. Vor zehn Jahren waren es wenige Hundert. Dass 17-, 18-Jährige, deren Persönlichkeit noch im Werden ist, mit der richtigen Wahl überfordert sind, muss nicht überraschen.
Turbojugendliche sollen sie sein, aber nicht überhitzen: jung die Schule abschließen, jung und schnell studieren, jung auf den Arbeitsmarkt treten. „Die heutigen Studenten machen sich mehr Druck als frühere“, sagt Bargel. Selbsteffizienz sei für sie ein hoher Wert. Umso heftiger trifft die Wut Institutionen, die Hürden aufbauen. Die Studentenproteste, die sich gegen knauserige Bundesländer und schlecht organisierende Hochschulen richteten, waren nicht (nur) Proteste arbeitsscheuer Hedonisten; sondern Demonstrationen williger, karrierebewusster Menschen, die sich nicht ausbremsen lassen wollen. „Läuft“, hat das Magazin „Unicum“ herausgefunden, ist eine der am meisten verwendeten Vokabeln an den Universitäten.
Nicht absehbar ist für Politiker und Hochschulen, wie viele junge Leute sich dem Turbobildungsgang in Zukunft verweigern werden. Wer wird im kommenden Jahr lieber eine Reise, ein freiwilliges soziales Jahr oder anderes unternehmen, als sich volle Hörsäle anzutun? Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) will die Hochschulpakte ausweiten. Es soll mehr Studienplätze geben. Aber wie viele werden nötig sein? In welchen Fächern? An welchen Orten?
Wieder reicht es nicht, nur die Abiturienten zu fragen. Je höher der Bildungsgrad der Eltern ist, desto seltener steigen die jungen Leute direkt nach der Schule in ein Studium oder eine Ausbildung ein. Das belegt eine aktuelle Studie des Deutschen Jugendinstituts. Kinder von Akademikern können es sich offenbar finanziell und sozial erlauben, sich Zeit zu lassen. Diese Lebenserfahrung außerhalb der Uni könnte, wenn blutjunge Absolventen der Normalfall geworden sind, zum Wettbewerbsvorteil bei der späteren Jobsuche werden.
Noch aber freuen sich die Arbeitgeber auf die Anfang 20-Jährigen, ob nun mit Bachelor oder Master. „Für viele Unternehmen ist es wichtig, dass sie formbare Mitarbeiter bekommen“, sagt Henning Dettleff von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände. Lebenslanges Lernen würde wichtiger, Weiterbildung essenziell. Bedenken gibt es, ob die Qualität der Absolventen stabil bleibt. Schon beklagen viele Unternehmen mangelnde Mathematikkenntnisse ihrer Bewerber.
„Wir werden eine Qualitätsdiskussion bekommen“, ist sich Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Philologenverbands, sicher. Einige Hochschulen böten bereits Vorkurse an, um die Abiturienten studierfähig zu machen. Durch die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium seien Hunderte Stunden weggefallen, kritisiert Meidinger. In Sprachen, in Mathematik. 9500 Stunden hat ein Abiturient in Deutschland nach zwölf Jahren absolviert, in Frankreich sind es 12.000, in den USA 11.000. „Ich war durch meine Schule gut auf das Studium vorbereitet“, sagt Studentin Wiebke Herweg aus Braunschweig. „Aber ich habe nicht wenige Kommilitonen erlebt, die es nicht waren.“