Fernseh-Highlight

Der ganze Kontinent an einem Tag

| Lesedauer: 5 Minuten
Sophie Vondung
Die Ganztages-Dokumentation führt durch ganz Europa und macht dabei auch Station im kühlen Island.

Die Ganztages-Dokumentation führt durch ganz Europa und macht dabei auch Station im kühlen Island.

Foto: RBB/Arte

Gleich fünf TV-Sender zeigen ein außergewöhnliches Projekt: eine 24-Stunden-Doku über Europa. Der Kontinent von allen Seiten.

Auf der Leinwand trinkt der Lehrer Yannis oben ohne auf seinem Balkon auf Lesbos Kaffee. Vor der Leinwand sitzt der echte Yannis auf der Bühne im Festsaal des Heimathafens Neukölln und schämt sich. „Warum bin ich der Einzige im Film, der kein T-Shirt trägt?“ Das Publikum lacht. Gemeinsam mit drei anderen jungen Europäern stellt er den Film „24h Europe – The Next Generation“ vor. Sie sind vier der insgesamt 60 Protagonisten einer ganz besonderen Dokumentation. Der Film dauert nämlich 24 Stunden. Und er wird in Echtzeit ausgestrahlt. Was um vier Uhr morgens in Belgrad gefilmt wurde, wird zur gleichen Uhrzeit in Berlin zu sehen sein. Der Film läuft vom 4. Mai um sechs Uhr bis sechs Uhr am Folgetag auf gleich mehreren Sendern: auf Arte, im rbb, SWR, BR und ARD-Alpha.

Eine große Momentaufnahme, die auch ein Gesamtbild ergibt

Im Mittelpunkt stehen all die Geschichten der zahlreichen Protagonisten. Und alle sind sie mit Europa verknüpft. Yannis etwa bekommt Europas Probleme jeden Tag zu spüren. „Ein Schüler hat am Wochenende mit seinen Eltern gegen Flüchtlinge demonstriert, sie haben Steine ins Camp geworfen“, erzählt er.

Der 30-Jährige beschloss, etwas zu ändern und gründete den Kindergarten „Mikros Dounias“, was übersetzt „kleine Welt“ bedeutet. Hier spielen geflüchtete Kinder gemeinsam mit einheimischen. Der Grundschullehrer ist stolz auf sein Projekt. „Die Kinder können die Sprachen ihrer Spielgefährten lernen“, sagt er.

Ein Schicksalsjahr für den Kontinent

Europa ist seit geraumer Zeit ein großes Thema. Und ein Sorgenkind. Zwischen nationalistischen Bewegungen, der ewigen leidigen Brexit-Diskussion und der anstehenden Europawahl am 26. Mai will „24h Europe“ ein Zeichen setzen. Europa ist bunt, hat viele Gesichter und muss geschützt werden.

Das ist die Botschaft von Volker Heise, von dem Idee und Konzept dieses außergewöhnlichen Projektes stammen. „Es ist ein entscheidendes Jahr. Das Europa, das wir im Film dokumentiert haben, wird es in zwei Jahren nicht mehr geben“, so Heise. Diese Zerbrechlichkeit möchte er zeigen.

Protagonistin Natalia kämpft für ihre Überzeugungen: Die Frauenrechtlerin aus Polen wird mit ihrer Initiative „Strajk Kobiet“ oft zur Zielscheibe. Alles habe angefangen, als die Regierung Abtreibung kriminalisiert habe, erklärt Natalias Partnerin Marta.

Polen hat eines der strengsten Abtreibungsgesetze von ganz Europa. Mittlerweile koordinieren Natalia und Marta deshalb internationale Frauenstreiks. Der Widerstand ist oft zu spüren: „Sie haben mich angeklagt, weil ich Seifenblasen in eine Gruppe Polizisten gepustet habe“, so Natalia.

Das preiswürdige 24-Stunden-Format

Die Aktivistin hat inzwischen ihren Job an den Nagel gehängt. „Ich werde nie aufhören, für Polen zu kämpfen“, sagt sie kämpferisch.

In 26 Ländern haben die Sender Protagonisten für dieses Megaprojekt gecastet. Jeder von ihnen zeigt ein Stück aus seinem Alltag. „Wir wollen das Publikum einladen, sich mit Europa jenseits der Nachrichtenlage zu beschäftigen“, erklärt Projektleiterin Martina Zöllner vom rbb.

„24h Europe ist eine große Momentaufnahme, die doch auch ein Gesamtbild ergibt“, so Zöllner. Dieses sogenannte horizontale Erzählen ist Heises Ding: Das 24-Stunden-Format hat er schon in Berlin, Bayern und Jerusalem genutzt – und gewann mit der Ganztages-Berlin-Dokumentation sogar den Deutschen Fernsehpreis.

Eine Momentaufnahme, die auch ein Gesamtbild ergibt

Viele junge Europäer sehen sich weniger als Deutsche oder Italiener, sondern als Bürger Europas. Aber auch das andere Extrem wird im Film nicht ausgespart: Rechte aus der Partei Forza Nuova patrouillieren durch einen Park in Italien. Einer alten Dame bringen sie Lebensmittelspenden, eine Form von Wahlkampf.

Sie sagt, die Ausländer seien schuld daran, dass sie sich ihre Medikamente nicht mehr leisten könne. „Bald ist hier alles voll von Afrikanern. Dann werden wir in einen Käfig gesperrt, und dann sagen sie: Schaut, das sind die letzten verbliebenen Italiener“, klagt die Frau im Film.

Bei der Premierenvorführung gibt das Lacher im Saal. Aber Heise betont: „Wir haben den Grundsatz, nicht zu urteilen.“ Man müsse auch dahin gehen. wo es wehtut. Auch das gehört zur Collage der europäischen Vielfalt.

Der pluralistische Ansatz passt zu Europa

Die Macher konzentrierten sich auf die Generation der Millenials und deren Themen. „Die tragen das Europa der Zukunft auf ihren Schultern. Die haben die Sache in der Hand“, betont Produzent Thomas Kufus. Die Einblicke ins Leben der Protagonisten laufen im Film mit rasanten Schnitten ineinander.

Hat man sich auf einen eingelassen, ist schon der nächste dran. Das bewirke aber einen direkten Vergleich und betone so die Vielfalt, sagt Projektleiterin Zöllner. „Es ist ein sehr pluralistisches Format. Das passt zu Europa.“

Für die, die es lieber kürzer mögen, wird der Film in den Mediatheken von ARD und Arte auch in Ein-Stunden-Portionen angeboten. Egal in welcher Form, „24h Europe“ anzusehen lohnt sich. Denn es eröffnet einen ganz neuen Blick auf Europa und die bereichernde Vielfalt seiner Bewohner.