In der Pressekonferenz lautete eine der ersten Fragen an Sean Penn, warum er in seiner Dokumentation so viel trinke. Wer den Film gesehen hat, kann das nicht abwegig finden: In Penns Nähe stehen wirklich fast immer halb gefüllte Gläser herum – in denen sich Wasser, aber auch Wodka oder Gin Tonic befinden könnte, man weiß es nicht. Penn reagierte so einsilbig wie zweideutig: Er habe sich so verhalten wie immer. Zur Hauptsache wurde er deutlicher: Nein, er habe kein Interesse, mit dem Aggressor Wladimir Putin zu sprechen oder seine Perspektive zu berücksichtigen. Es gehe ihm darum, den Freiheitskampf der Ukraine darzustellen. Auch deshalb habe er Wolodymir Selenskyij den Film noch vor der Weltpremiere gezeigt.
Man wäre gern dabei gewesen. Sean Penn und seinem Ko-Regisseur Aaron Kaufman ging es zuerst gar nicht darum, einen Film über Wladimir Putins Angriffskrieg zu drehen. Selenskyj, seit dem 20. Mai 2019 Präsident der Ukraine, hatte sie und ihr Team aus ganz anderen Gründen dazu gebracht, die weite Reise von Los Angeles nach Kyiv anzutreten. Da war zunächst die aberwitzige Geschichte des Mannes, der mit einer Mehrheit von 73 Prozent der abgegebenen Stimmen ins höchste Amt seines Staates eingezogen war: Nach seinem Studium hatte er vor allem als Schauspieler, Synchronsprecher, Komiker und Fernsehproduzent Karriere gemacht. Es gab Videos aus Klamaukshows, in denen er absurde Hüte trug, in Tanzformation posierte und mit seinem Penis Klavier zu spielen vorgab. Noch bizarrer: In der Fernsehserie „Diener des Volkes“ spielte er einen einfachen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten wird – als habe die Realität der Fiktion nachgeeifert.
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Und dann war da die Sache mit Donald Trump. Im Wahlkampf gegen den Demokraten Joe Biden hatte der US-Präsident im Sommer 2019 den bereits amtierenden Selenskyj angerufen und dazu gedrängt, belastendes Material gegen Bidens Sohn Hunter zusammenzustellen. Dieser war als Vorstand der im Öl- und Gasgeschäft operierenden Burisma Holding in Geschäfte mit der Ukraine involviert gewesen. Gesprächsprotokolle wurden geleakt, in denen Trump in der Manier eines schmierigen Mafioso auf das Oberhaupt eines anderen Staates Druck auszuüben versuchte: Lenke Selenskyj nicht ein, so der Subtext, dann könne es mit amerikanischen Unterstützungsleistungen schnell vorbei sein. Der ukrainische Präsident dachte aber gar nicht daran, solchen Erpressungsmethoden zu folgen, stattdessen wurde in den USA ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump eingeleitet.
„Superpower“: Niemand wollte an den Angriff glauben
Und so begann der Film, der am Ende „Superpower“ heißen sollte, mit einer Illusion, an der die Filmcrew, wie so viele aus dem Westen, auch noch festhielt, als Putins Säbelrasseln an der Grenze seines Nachbarlandes unüberhörbar geworden war. Am Vorabend des folgenschweren 24. Februar 2022 sehen wir Penn, Kaufman und das Team mit ukrainischen Freunden um einen Kneipentisch in Kyiv sitzen und die Lage besprechen. Ob Russlands Präsident wirklich losschlage? Die meisten halten das für unwahrscheinlich. Man raucht und trinkt Bier. Am nächsten Tag wird Putin den Beginn einer „militärischen Spezialoperation“ verkünden und den Angriff auf Kyiv einleiten.
So wurde es ein gänzlich anderer Film, in dem der Präsident der Ukraine Sean Penn unfassbarerweise tatsächlich am ersten Tag des Krieges zum Kurzinterview empfing. Wäre dies keine Dokumentation, sondern Literatur, dann würde man von einem Bildungsroman sprechen: Penn, der anfangs offen einräumt, so gut wie nichts über die Ukraine zu wissen, erfährt in Gesprächen vor Ort, was es mit den Protesten um die Jahreswende 2013/14 auf sich hatte, die unter dem Schlagwort Euromaidan in die Geschichte eingehen sollten. Er lernt viel über die Annexion der Krim im Frühjahr 2014, die im direkten Zusammenhang damit stand – und darüber, was die verhaltene Reaktion des Westens für die Ukrainerinnen und Ukrainer bedeutete. Er trifft Mentorenfiguren: ehemalige Staatsbedienstete, Sicherheitsexperten, Aktivisten, Anwälte und eben Selenskij, die ihm allesamt ein Gefühl für die Freiheitssehnsucht des ukrainischen Volkes vermitteln. Und er geht aus diesem Lernprozess am Ende geläutert hervor, als einer, der im eigenen Land für mehr Aufmerksamkeit gegenüber diesem Krieg wirbt, für mehr Unterstützung, mehr Waffen.
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Kein Zweifel, dass er dabei ein pulsierendes Stück Zeitgeschichte eingefangen hat und viel wichtige Informationsarbeit für das überfallene Land leistet. Spannend zu sehen, wie Medienprofi Selenskyj schon Stunden nach dem Überfall verstanden hat, welchen kommunikativen Wert die Gegenwart eines weltweit bekannten Hollywood-Stars in Kyiv für ihn hat und ihn auch deshalb zu sich vorlässt. Und erhellend, anhand dieser Bilder noch einmal rekapitulieren zu können, was in den vergangenen zwölf Monaten in der Ukraine geschehen ist.
Und doch leidet der Film unter der Entscheidung, nicht etwa Selenskyj oder die kriegsversehrten Menschen, sondern Sean Penn zum Hauptakteur zu machen. Niemand ist derart oft leinwandfüllend zu sehen, müde, zerknittert, rauchend, trinkend, hadernd, zuhörend, für Demokratie werbend, Jacken an- und ausziehend, Sonnenbrillen auf- und absetzend. Je länger die Dokumentation dauert, desto irritierender wird die Verliebtheit der Kamera in sein Gesicht, während sich die Realität dieses Krieges andernorts abspielt. Sie kommt vor und wird gezeigt, auch in schwer auszuhaltenden Bildern, was „Superpower“ zu einem sehenswerten Film macht. Hätte der Akzent auf ihr gelegen, wäre er herausragend geworden.