Berlinale

Szenen aus dem Krieg - und der Zeit davor

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Thomas Abeltshauser
Manche Szenen sind erst vor wenigen Monaten entstanden: Der ukrainische Film „Eastern Front“ in der Sektion Encounters.

Manche Szenen sind erst vor wenigen Monaten entstanden: Der ukrainische Film „Eastern Front“ in der Sektion Encounters.

Foto: © Vertov

Vor einem Jahr begann Putins Angriffskrieg. Nun wird die Ukraine ein Schwerpunkt der Berlinale mit vielen Filmen und Veranstaltungen.

Als politisch hat sich die Berlinale schon immer verstanden, das gehört zum Gründungsmythos der 1951 erstmals im eingeschlossenen West-Berlin ausgetragenen Filmfestspiele. Selten schien es so relevant und dringlich wie jetzt angesichts der aktuellen Weltlage. Vier Tage nach Ende der letzten Berlinale, am 24. Februar 2022, überfiel Russland die Ukraine, seit fast einem Jahr herrscht Krieg in Europa. Das Festival reagiert darauf auf verschiedenen Ebenen.

Vor allem aber nimmt sie natürlich Filme ins Programm, die sich mit der Situation in der Region auseinandersetzen, vor dem Einmarsch und seitdem. Bis ins Jahr 2014 zurück geht der Dokumentarfilm „Iron Butterflies“ von Roman Liubyi, der sich mit dem Absturz eines Passagierflugzeugs über dem Osten der Ukraine auseinandersetzt. Am 17. Juli 2014 war eine malaysische Maschine (Flug MH17) auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, bis sie aus zunächst ungeklärter Ursache abstürzte und alle 298 Menschen an Bord ums Leben kamen.

Eine Vielzahl an Filmen handeln davon, wenn alle Gewissheiten auseinanderbrechen

Die ukrainisch-deutsche Koproduktion rekonstruiert präzise, wie damals lange Fehlinformationen gestreut wurden, um davon abzulenken, dass eine russische BUK-Rakete für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich war. Mithilfe einer beeindruckenden Collage aus Archivmaterial, Nachrichtenbildern und Videos aus sozialen Medien, entlarvt Liubyi die Strategien und Mechanismen russischer Kriegsführung, die gezielt mit Desinformation und Propaganda arbeitet, lange bevor der Begriff Fake News populär wurde. Und sensibilisiert damit auch für den Umgang mit Informationsquellen heute.

Neben „Iron Butterflies“ läuft im Panorama außerdem „Ty mene lubysh?“ von Tonia Noyabrova. Sie kehrt in ihrem autobiographisch inspirierten Spielfilm in die Zeit zurück, als die Sowjetunion zerfällt. Im Leben einer 17-jährigen, die gerade beginnt, westliche Freiheiten auszukosten, brechen alle Gewissheiten auseinander. Der Weg in die Unabhängigkeit, die eigene und die ihres Landes, verunsichert und tut mitunter weh.

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Der vielleicht dringlichste Beitrag kommt im Encounters-Wettbewerb, „Eastern Front“ von Vitaly Mansky und Yevhen Titarenko. Manche Szenen sind erst vor wenigen Monaten entstanden, zeigen die Zerstörung des Kriegs, roh und unmittelbar, oft schwer auszuhalten. Titarenko ist seit 2014 beim freiwilligen Sanitätsbataillon, hilft mit seiner achtköpfigen Brigade an der Front. Dazwischen gibt es Besuche bei der Familie im Westen, ein irritierender Kontrast zu den Einsätzen. Bilder abseits der Nachrichten, die hautnah zeigen, wie ein Land ums Überleben kämpft.

Präsident Selenskyj könnte zur Berlinale zugeschaltet werden

Sicherlich große Aufmerksamkeit wird wohl ein prominent besetzter Film bekommen, der am Freitag als Berlinale Special Gala in der Verti Music Hall Weltpremiere feiert. Hollywoodstar und Oscarpreisträger Sean Penn und sein Koregisseur Aaron Kaufman drehten bereits in Kiew, als Putins Invasion vor einem Jahr begann und werden so unvermittelt Augenzeugen des Krieges. Penn konnte in dieser Zeit auch länger mit Präsident Wolodymyr Selenskyj sprechen. Seinen Dokumentarfilm „Superpower“ wird Penn persönlich vorstellen. Gut möglich, dass es dabei auch eine persönliche Videobotschaft von Selenskyi gibt, oder womöglich gar eine Liveschaltung während der Pressekonferenz.

In der Kinder- und Jugendsektion „Generation“ finden sich gleich zwei Filme mit ukrainischer Thematik. In „We Will Not Fade Away“ dokumentiert Alisa Kovalenko den Alltag von fünf Jugendlichen im Donbass, gedreht vor der Invasion, aber der Bedrohungszustand schwingt immer mit. Und in der Kurzfilmdoku „Waking Up in Silence“ beobachten Mila Zhluktenko und Daniel Asadi Faezi aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtete Kinder, die in einer ehemaligen Kaserne untergebracht sind, die früher den Nazis, dann den Alliierten diente. Beim Spielen stoßen sie auf militärische Symbole, die sie an ihre eigenen Erfahrungen vor der Flucht erinnert.

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Ein weiterer Kurzfilm läuft bei den Berlinale Shorts, „It’s a Date“ von Nadia Parfan. Darin rast ein Auto im Morgengrauen durch Kiew, ein atemberaubender Trip durch eine Stadt im Ausnahmezustand, gedreht in einer einzigen Einstellung. Bei den Berlinale Talents wird es am 22. Februar im HAU3 außerdem die Gelegenheit geben, den Filmteams von „We Will Not Fade Away“ und „Iron Butterflies“ zu begegnen. Unter dem Titel „A Closer Look: Current Docs from Ukraine“ werden sie über den Umgang mit dem russischen Angriffskrieg sprechen und welche Perspektiven und Ansätze es für Dokumentarfilmemacher gibt.

Eine Analyse der Kriegsbilder liefert der Forumsbeitrag „W Ukrainie“ von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski, die sich anhand von Aufnahmen zerbombter Straßen, russischer Panzer und dem Alltag der Stadtbevölkerung in Schutzbunkern der Realität nähert. Der ukrainische, in Berlin lebende Filmemacher Sergei Loznitsa („Maidan“) hat in diesem Jahr kein eigenes Projekt auf dem Festival, stellt aber im Rahmen der Retrospektive „Coming of Age“ einen Film über das Erwachsenwerden vor:, „Gražuolė“ der litauischen Regisseurin Arūnas Žebriūnas aus dem Jahr 1969, als das Land noch Teil der UdSSR war. Er wird es sich wohl nicht nehmen lassen, bei der Einführung einen aktuellen Bezug herzustellen.

In diesem Jahr gibt es den Berlinale-Ansteck-Pin in den ukrainischen Nationalfarben

Inwieweit sich der Blick auf die Gegenwart im postsowjetischen Kino verändert hat und die Realitäten der unterschiedlichen Staaten filmisch wahrgenommen werden, in der Ukraine, im Baltikum und anderswo, wird Thema einer Podiumsdiskussion des Europäischen Filmmarkts am 20. Februar sein. Für interessierte Koproduzenten wird ein Panel zur Finanzierung ukrainischer Filmprojekte geben, der Ukrainestand auf dem Markt wird außerdem kostenfrei zur Verfügung gestellt.

Auch abseits der Leinwand sollen kleine Gesten auf die Situation in der Ukraine aufmerksam machen. Wer mag, kann mit einem Ansteck-Pin in Form des Berlinale-Bären in den ukrainischen Nationalfarben Blau-Gelb, am Revers Solidarität zeigen. Für den Kühlschrank zuhause gibt es im Berlinale-Shop auch noch einen magnetischen Berlinale-Bär, von ukrainischen Künstlerinnen in der landestypischen Petrykiwka-Malerei gestaltet. Für die Zeit nach dem Festival.