Fast müssen sie einem ja leid tun. Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian sind die neuen Chefs der Berlinale. Als Geschäftsführerin und Programmleiter führen sie das Festival erstmals als Doppelspitze. Doch gleich bei der ersten Berlinale, die sie bestreiten, werden sie mit Problemen konfrontiert, die gar nichts mit ihrem Programm zu tun haben: Sponsorenverträge, die auslaufen, Kinos, die am Potsdamer Platz schließen, eine Stripshow im Keller des Berlinale-Palastes. Und zuletzt auch noch die neuen Erkenntnisse um Alfred Bauer, den Begründer des Festivals, der seine Nazi-Karriere verschwiegen hat. Wie kann man sich da eigentlich noch auf das eigentliche Programm konzentrieren? Wir haben die beiden in ihren Büros am Potsdamer Platz gesprochen.
Eine ketzerische Frage vorab: Macht die Berlinale eigentlich noch Spaß? Es ist Ihr erstes Festival, aber Sie müssen sich mit lauter Dingen befassen, die mit dem aktuellen Programm gar nichts zu tun haben.
Mariette Rissenbeek: Das Festival steht fast vor der Tür, da geht der Spaß doch erst richtig los. Darauf haben wir doch all die Monate hingearbeitet. Ja, ich habe mich eine ziemliche Zeit lang auch mit „Magic Mike“ beschäftigen müssen und mit der Alternative für den Wegfall der Cinestar-Kinos. Aber jetzt geht es darum, wo man wann welches Team begrüßen wird. Das sind die Dinge, die Freude bereiten.
Carlo Chatrian: Wie Mariette gesagt hat: Es galt einige Dinge zu klären. Und das hat uns schon sehr beschäftigt. Aber wir haben uns immer gesagt: Wir sind doch privilegiert! Wir dürfen einen großartigen Job machen. Und was ich wirklich mag und immer wieder sage: Wir verstehen uns als Brückenbauer. Wir haben Filmemacher hier und das Publikum da, und die wollen wir zusammenbringen. Dass wir auch andere Brücken bauen mussten, war uns vorab nicht so klar. Aber das gehört halt auch dazu.
Gerade kam noch die Erkenntnis hinzu, dass der Berlinale-Gründer Alfred Bauer seine Nazi-Karriere verleugnet hat. Inwieweit schadet das dem Image des Festivals, wo gerade dessen 70. Ausgabe gefeiert wird?
Rissenbeek: Es ist für uns ein bisschen wie Fischen im trüben Wasser. Wir wissen noch nicht, wie die Faktenlage ist, und haben den ersten weiteren Schritt beschlossen. Alle Fakten sollen noch einmal von einer externen, unabhängigen Kommission geprüft werden. Deshalb bin ich gerade im regen Austausch mit verschiedenen Institutionen, die Expertise auf diesem Gebiet haben. Aber die Berlinale wurde zu dem, was sie heute ist, nicht nur durch ihre ersten 25 Jahre, sondern auch durch die 45 Jahre danach. Nach Alfred Bauer hat sie eine eigenständige Entwicklung gemacht.
Wird der Alfred-Bauer-Preis jetzt nur für dieses Jahr ausgesetzt oder wird er komplett abgeschafft?
Rissenbeek: Das werden wir von der externen Expertise abhängig machen. Aber unter dem jetzigen Wissensstand ist es für uns keine Option, den Alfred-Bauer-Preis weiterzuführen.
Mit dem Bauer-Preis wurden neue künstlerische Perspektiven in der Filmkunst ausgezeichnet. Dafür gibt es ab diesem Jahr ja einen neuen, zweiten Wettbewerb mit eigenen Preisen. Ist das Glück im Unglück: Der Ersatz ist praktischerweise schon da?
Rissenbeek: Es ist zumindest eine Chance, den Preis noch mal neu zu definieren.
Chatrian: Der Alfred-Bauer-Preis war vor allem ein Spezialpreis der Jury. Der Name beschädigt nicht den Preis. Mariette und ich, wir diskutieren zurzeit noch, wie man der Jury eine Möglichkeit gibt, auch in diesem Jahr einen Film mehr zu würdigen.
Der zweite Wettbewerb namens „Encounters“ ist die größte Neuerung der Berlinale. Warum, Herr Chatrian, muss es noch einen Wettbewerb geben?
Chatrian: Ein Wettbewerb ist ein Werkzeug, das einem Festival zur Verfügung steht. Wenn ich eine Sektion für eine bestimmte Form von Filmen einrichte, ist das eine Verpflichtung, sich diesen speziellen Werken zu widmen. An welche Filme denken wir da? Das begann mit einer abstrakten Idee, die das Resultat meiner Festivaltätigkeit in Locarno war. Im 21. Jahrhundert werden immer mehr Filme abseits des traditionellen Produktionssystems gedreht. Heute kann jeder Filme mit seinem Handy drehen. Die sind vielleicht nicht immer perfekt, aber sie können sehr stark und vibrierend sein. Sie im Bären-Wettbewerb zu zeigen, wäre nicht die richtige Wahl. Aber wir wollen ihnen trotzdem ein Podium geben. Was dann auch dem Festival zugutekommt, weil es anderen narrativen Formen nachspürt.
Aber ist dafür nicht eigentlich die bereits die bestehende Sektion Forum da? Macht „Encounters“ dem Forum nun nicht in gewisser Weise Konkurrenz im eigenen Haus?
Chatrian: Das Forum ist ein Podium, wo verschiedene Filmemacher mit verschiedenen Hintergründen etwas miteinander teilen: ihre Filme, ihre Ideen. Das habe ich mit Cristina Nord, der neuen Leiterin des Forums, diskutiert. Mit einer zusätzlichen Wettbewerbssektion wollen wir ein paar Filme beleuchten, die sehr anders, die neue Stimmen in der Kinematographie sind. Natürlich wird es da Überlappungen geben, sowohl zum Forum als auch zum Bären-Wettbewerb. Aber „Encounters“ soll weder eine Konkurrenz zum einen noch zum anderen sein, sondern eine Ergänzung.
Zwei Wettbewerbe mit insgesamt 33 Filmen: Wer soll, wer kann das alles schauen? Ist das zeitlich überhaupt möglich?
Chatrian: Insgesamt haben wir deutlich weniger Filme als auf der vergangenen Berlinale. Wenn die Besucher im letzten Jahr damit umgehen konnten, werden sie es auch in diesem Jahr tun. Natürlich wird es in unserem ersten Jahr eine große Neugierde auf das Programm geben. Und es kann da schon die eine oder andere Überschneidung geben. Aber die Berlinale ist ein Festival für eine große Stadt und verschiedene Publika. Die Welt, in der wir leben, wird immer vielfältiger. Ich denke, die Menschen sind daran gewöhnt, Entscheidungen zu treffen.
Die leidige Frage bei jeder Berlinale ist die, wie viele Stars kommen. Sie, Herr Chatrian, meinten anfangs, die Berlinale sei keine Glamourmaschine, das gehöre auch nicht zur DNA der Stadt. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat gleich korrigiert, natürlich seien Stars wichtig. Was stimmt denn nun? Und wie viele Stars kommen?
Chatrian: Ich habe nie gesagt, dass Glamour nicht wichtig sei. Was ich gesagt habe, ist: Wir sind kein Event, bei dem Kleider verkauft werden. Das ist ein Unterschied. Wir sind ein Event, das Enthusiasmus kreieren will. Und Stars kreieren Enthusiasmus. Also sind Stars auch sehr wichtig für die Berlinale.
Dennoch: Fühlten Sie sich nicht, als ob Ihnen Frau Grütters da gleich zum Start in den Rücken fällt?
Rissenbeek: Das war sicher nicht ihre Intention. Sie wollte wohl eher sagen, dass wir an die Glamour-Seite schon auch gedacht haben. So habe ich es jedenfalls interpretiert. Nicht als Aufforderung.
Noch ein erschwerter Umstand für das Festival: Der Potsdamer Platz ist in diesem Jahr ziemlich verwaist. Mit der U-Bahn ist er schwer zu erreichen, die Arkaden sind fast leer. Findet die Berlinale in einem geisterstadtartigen Areal statt?
Rissenbeek: Dass die Geschäfte in den Arkaden geschlossen haben, ist sicher nicht günstig für unsere Gäste und Zaungäste, die auch noch etwas am Platz verweilen wollen. Aber ganz verwaist ist der Platz ja nicht. Und wir bespielen die Arkaden weiter. Der Ticketcounter und der Merchandisingstand sind nach wie vor dort. Wir nutzen die Flächen auch für eine Präsentation zum Thema Nachhaltigkeit. Dabei rücken wir die 17 Ziele der Vereinten Nationen für Umweltschutz und Nachhaltigkeit in den Fokus. Aber klar, wir können nicht sagen, dass es nichts ausmacht, wenn man keinen Schaufensterbummel oder etwas Shopping zwischendrin machen kann. Aber die Mall am Leipziger Platz ist nur wenige Minuten entfernt. Und es ist auch in unserem Interesse, dass die Arkaden erneuert werden und eine neue Strahlkraft bekommen. Dafür ist eine Sanierungsphase notwendig, das muss man eben aushalten.
Chatrian: Berlin ist eine Stadt, die nie aufhört, sich zu wandeln. Das wird jeder bestätigen. Und das ist es ja, was viele an der Stadt so mögen. Also muss man akzeptieren, dass es auch Veränderungen am Potsdamer Platz gibt. Natürlich sind wir nicht glücklich, dass das hier gleich bei unserem ersten Festival geschieht. Aber natürlich wollte uns damit niemand Steine in den Weg legen. Das ist nun eine Übergangsphase. Und die bringt wie jeder Wandel Vor- und Nachteile mit sich.
Bei all diesen logistischen Schwierigkeiten und erschwerten Bedingungen: Kommt man da überhaupt dazu, das Jubiläum 70 Jahre Berlinale zu feiern?
Rissenbeek: Glücklicherweise haben wir uns darüber schon in einem sehr frühen Stadium Gedanken gemacht, im Sommer, als wir noch nicht so viel um die Ohren hatten. Die Idee, mit Partnern und Kulturinstitutionen in der Stadt eine Art Vorfreude in den Tagen vor der Berlinale zu entwickeln und gemeinsame Aktivitäten zu veranstalten, haben wir sehr früh angeschoben. Ich bin auch auf die Reihe „On Transmission“ gespannt, in der ehemalige Berlinale-Regisseure sich öffentlich mit Kollegen austauschen, denen sie sich besonders verbunden fühlen. Da geht es auch immer um die Frage, wofür steht Kino und was wollen wir damit. Damit feiern wir zum einen die Geschichte des Festivals, blicken zugleich aber auch in die Zukunft.
Wofür stand die Berlinale für Sie in all den Jahren? Und wollen Sie sie in diesem Sinne weiterführen?
Rissenbeek: Ich weiß nicht, ob wir darauf unterschiedliche Antworten haben. Ich habe erst im Verleih, in der Produktion und dann bei German Films, der Auslandsvertretung des deutschen Films, gearbeitet. Ich komme also eher von der Branchenseite und habe erlebt, wie das Interesse international immer größer wurde und die Berlinale immer mehr zum Arbeitsfestival wurde, wo man sich austauschen und konkrete Projekte besprechen konnte. Es war nie ein Festival, auf das man nur geht, um Filme zu schauen. Und anders als Cannes ist es hier entspannter, man muss sich nicht so anstrengen, um dabei sein zu können. Arbeits- und Publikumsfestival zugleich: Das macht für mich die Einzigartigkeit aus. Und die will ich gern fortführen.
Chatrian: Man hat das Kino immer wieder für tot erklärt. Und doch lebt es nach wie vor. Weil da immer diese Notwendigkeit ist, einen Blick in die Welt zu haben. Und mit Geschichten berührt zu werden, die fern von unseren eigenen sind. Das Kino wird immer eine Kunstform für das große Publikum sein. Vielleicht verändert sich die Rezeption. Das geschieht ja schon durch Streamingdienste. Deshalb sind Festivals vielleicht auch so erfolgreich, weil man hier Bilder sieht, die größer sind. Es liegt nicht an uns zu sagen, was Kino ist und was seine Zukunft ist. Aber wir müssen offen sein, wie Filme sich entwickelt.
Wird diese Berlinale ein Übergangs-Jahr? Testen Sie das Festivalgefüge erst mal aus und die großen Neuerungen und Veränderungen kommen dann im nächsten Jahr?
Rissenbeek: Natürlich lernt man bestimmte Dinge erst richtig kennen, wenn man damit arbeitet. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir uns nach der Berlinale zusammensetzen und resümieren, was gut lief und was man vielleicht hätte anders machen sollen. Aber jetzt müssen wir erst einmal dieses Festival stemmen.
Letzte Frage: Muss sich das Festival als Großveranstaltung eigentlich auch Gedanken über das Coronavirus machen?
Rissenbeek: Wir haben selbstverständlich alle Mitarbeiter für das Thema sensibilisiert und mitgeteilt, welche Maßnahmen wir ergreifen. Wir stehen mit dem Robert-Koch-Institut und dem Bundesgesundheitsamt in Kontakt. Aber glücklicherweise ist noch keine Epidemie oder Pandemie ausgebrochen, es wäre also verfrüht, über den Ernstfall zu reden. Aber natürlich wirkt sich das Coronavirus schon aus, vor allem beim European Film Market. Die Chinesen haben dort einen größeren Stand geplant und wollten mit großer Delegation anreisen. Das muss jetzt abgesagt werden, weil sie keine Reiseerlaubnis bekommen. Auch andere chinesische Filmschaffende, die sich hier eigentlich mit der Filmbranche austauschen wollten, werden nicht kommen können. Das ist ein großer Verlust.
Mehr zum Thema: Die neuen Berlinale-Chefs stellen ihr neues Programm vor