Filmfestival

Wie die Leserjury der Morgenpost die Berlinale erlebt

| Lesedauer: 7 Minuten
Peter Zander

Foto: Sergej Glanze / Glanze

Zwölf Berliner wurden ausgewählt, um am Berlinale-Ende den Favoriten des Publikums zu bestimmen. Ihre Tage zwischen Zeit- und Notplänen.

Nur ganz kurz! Der erste Wettbewerbsfilm ist gerade zu Ende, der zweite beginnt aber schon in fünfviertel Stunden. Also ganz schnell. Wir treffen uns am Treppenfuß des Berlinale-Palastes. Gar nicht so leicht, wenn da 1700 Leute gleichzeitig hinausströmen. Und gehen in der Nähe Kaffee trinken.

Gar nicht so leicht, wenn man zu zwölft ist. Aber in der Eisdiele in den Potsdamer Platz Arkaden finden sich genug freie Tische, die man auch noch zusammenschieben kann. Gina Lollobrigida und Marcello Mastroianni gucken einem dabei vom Fenster zu. Eine durchaus passende Atmosphäre.

Denn unseren zwölf Geschworenen geht es ja wie der Internationalen Jury um Wong Kar-wai: Sie wurden auserwählt, um zehn Tage lang den Wettbewerb der Berlinale zu schauen und am Ende den Favorit des Publikums zu bestimmen. Das heißt: drei Filme am Tag sind Pflicht, wer dann noch kann, kann auch andere Sektionen gucken.

Ganz viel Obst – Nee, Fastfood!

Bloß nicht, sagt Uwe Schmidt. Drei sind wirklich genug, da hat man was getan. Für andere fängt der Spaß dann erst an. Immerhin die Hälfte der Juroren haben es schon auf fünf Filme am Tag gebracht. Wie ernährt man sich da eigentlich zwischendurch? „Ganz viel Obst“, sagt Katja Techritz. „Nee, nur Fastfood“, kontert Monika Richter. Katja zwingt sich, viel zu trinken, „sonst kriege ich Kopfschmerzen.“ Wenn die Tasche zu groß ist, muss man die abgeben. So musste sie einmal ganz ohne Wasser durchstehen. „Und dann ist auch die Luft manchmal so dick“, stöhnt Christian Wagner.

Aber egal. Man ist ja nicht zum Vergnügen hier. Sondern weil man eine Mission erfüllt. Und das tut das Juroren-Dutzend mit Hingabe. Die meisten sitzen auch immer zusammen. Was nicht ganz einfach ist: Für Herrn Wong und seine Genossen wird ja immer eine Reihe freigehalten, die Morgenpost-Jury dagegen muss sich ihre Plätze wie jeder andere erkämpfen. Gar nicht so leicht, wenn man für zwölf Leute besetzt hält.

Alles über die 63. Berlinale lesen Sie in unserem Special.

Das normale Leben kommt in dieser Zeit komplett zum Erliegen. Serafin Fernandez Rodriguez ist eigentlich ein Nachtmensch, vor fünf Uhr morgens geht er nie ins Bett. Jetzt aber muss er schon um neun in der Früh im Kino sitzen. Das Einschlafen fällt nicht leicht. Er setzt auf eine vorsichtige Portionierung von Valium: eine Viertel Pille täglich. Dafür schmiert ihm sein Freund Michael morgens die Stullen - und fährt ihn auch noch an den Potsdamer Platz. „Was er sonst nie macht.“ An dieser Stelle sei ihm ausdrücklich dafür gedankt.

Auch Christian ist eigentlich ein Nachtmensch. Und also ein Längerschläfer. Jetzt steht der Wecker auf sieben. Heute wurde er sogar noch vor dem Klingeln wach. „Das passiert mir sonst nie.“ Die innere Uhr ist schon auf Berlinale eingestellt. Die beiden haben noch etwas gemeinsam: Ihre Heizung ist ausgefallen. Bei Serafin kommt morgen der Klempner. Den ersten Film muss er da wohl nachholen.

Auch bei Christian fiel am ersten Tag die Heizung aus. Und am zweiten auch noch der Herd. Er bleibt aber hart. Das muss bis nach der Berlinale warten. Einen Herd braucht man ja sowieso nicht. Das mit dem Essen besorgt die Familie. Bei Marianne Kunert liegen morgens immer Apfelsinenschnittchen auf dem Tisch, die macht ihr Mann für sie: Vitamine für den Tag. Bei Katja erfüllt das Obst gleich noch einen anderen Zweck: Sie wohnt mit ihrer Zwillingsschwester zusammen. Und die schreibt ihr auf Apfelsinen und Clementinen mit dem Edding-Stift kleine Botschaften. Man sieht sich ja sonst nicht. Und so dient die Nahrungsaufnahme auch gleich als Konversations-Ersatz.

„Karl May für Arme“, knurrt Uwe

Monika wohnt praktischerweise mit vielen Cinephilen zusammen. Die turnen alle auf der Berlinale herum. So hat jeder Verständnis für den anderen, man sieht sich aber höchstens auf dem Potsdamer Platz und auch da eher in Hektik. Uwe kann sich da ganz auf seine Familie verlassen. „Die unterstützt mich, indem sie mich voll entlastet und voll verpflegt. Ich muss auch nicht den Müll rausbringen oder mit dem Hund Gassi gehen.“

Noch gibt es kein großes Schlafdefizit, keine Filmallergie. Das Festival scheint eher ein großer Glücksrausch zu sein. Christian empfiehlt Bonbons: Hilft gegen Müdigkeit und Langeweile. Okay, in dem einen oder anderen Film macht man schon mal die Augen zu. Aber das ist nur Augenpflege.

Augen zu und durch: Diese Worte kriegen hier eine ganz andere Bedeutung. Denn, so groß die Freude ist, dabei zu sein, wundern tun sich die Juroren schon, wie so mancher Film in den Wettbewerb kam. Der deutsche Western „Gold“ etwa. „Der hat wohl den Nina-Hoss-Bonus“, mutmaßt Ann-Katrin Spindler. „Karl May für Arme“, knurrt Uwe. Und bei manchen Filmen geht die Meinung diametral auseinander. Bei dem polnischen Beitrag „In the Name of“ etwa. Serafin findet es ganz mutig, dass aus Polen ein Film über die Homofeindlichkeit in diesem Land kommt. Ach was, sagt Monika Richter, alles nur Marketing. Die Regisseurin weiß, wie sie ihre Filme verkaufen kann.

Nachts was Belangloses, bitte

Monika hat immer einen Notizblock mit, jeder Film kriegt eine Seite mit Notizen über Regie und Schauspieler. Auch Christian macht sich eine Liste, links mit objektiven, rechts mit subjektiven Eindrücken. Uwe geht ganz anders vor: „Der Film, an den ich mich am Ende am besten erinnern kann, der wird’s.“ Am Freitag müssen sie entscheiden. Bis dahin will Ann-Katrin die Akkreditierung so viel nutzen wie möglich und hat sich einen strikten Zeitplan gemacht, wie lange welcher Film läuft und in welchen anderen sie es dann noch schafft. Christian Burtscher hat sich eher einen Notplan gemacht: Wenn ich nach zehn Minuten merke, der Film ist nichts, welcher fängt dann gerade an?

Der wichtigste Rat kommt von Katja: Bloß nicht hinter Tim Robbins sitzen. Der ist zwar auch Juror. Aber viel zu groß. Da sieht man nichts. Zoe Hagen gibt zu, wenn sie nachts nach Hause kommt, schaltet sie noch die Glotze ein. Um abzuschalten. Nach all den schweren Themen im Wettbewerb möglichst „was Belangloses“. „Wie?“, rufen die anderen, „dann kannst du noch was gucken?“ Aber dann ein bestürzter Blick auf die Uhr: Oje, „Die Nonne“ wartet! Der nächste Film. Also rein in die Klamotten. Rüber ins Kino. Und um die Plätze kämpfen.