Wer eine Langzeit-Dokumentation über Berliner vom Bundeslatz macht, muss bereit sein, in ein Flugzeug zu steigen und nach Malatya in der Türkei zu fliegen. Das denken zumindest Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm, steigen also in Ostanatolien am Flughafen aus, reiten auf einem Maulesel in 2700 Metern Höhe. Dort, auf einem Hügel über dem Dorf, unter einem Baum, führen sie ein Interview mit einem deutsch-türkischen Paar aus Berlin, über Kindererziehung im Jahr 2012, über Freiheiten der Frau und über das Leben am Bundesplatz überhaupt.
Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm sind noch häufiger gereist, nach Amerika oder nach Hamburg, aber meist haben sie ihre 30 Protagonisten in Berlin getroffen – und das 25 Jahre lang. Eine Bäckersfrau, ein Schornsteinfeger, ein schwules Pärchen, ein Star-Anwalt nebst Gattin, die ein Plüschbär-Imperium gründen will, das sind nur vier der 30 Themen, die am Bundesplatz beginnen. Einzige Bedingung war, dass die Protagonisten im Jahr 1986 am Bundesplatz wohnen.
Damals ahnte noch keiner, dass der Mauerfall bevorsteht, dass es einmal eine Wirtschafts-Krise geben werde, dass sie sich ver- und entlieben oder an einer Krankheit leiden werden. Jetzt bekommt die Serie „Berlin – Ecke Bundesplatz“ ein erstes Happy End: Die beiden Filmemacher präsentieren die letzten vier Filme am Sonnabend auf der Berlinale, ab Sonntag im Programm der Kiezkinos. Die Filme „Vater Mutter Kind“, „Schornsteinfegerglück“, „Bäckerei im Kiez“ und „Feine Leute“ eröffnen die Reihe „Berlinale goes Kiez“. Das rbb-Fernsehen zeigt die neuen Folgen sowie zwei alte ab 26. Februar 2013 immer dienstags.
Angefangen haben sie mit kleinen Zetteln, die in Briefkästen am den Bundesplatz steckten. Rund 120 Menschen meldeten sich, von denen haben sie dann die ausgewählt, denen sie jahrelang folgten. „Wir wollten nur Menschen porträtieren, die wir auch irgendwie mögen“, sagt Detlef Gumm. „Wir haben ihnen dafür garantiert, dass wir sie nicht bloßstellen.“ Alle Protagonisten haben die Endfassung gesehen, bevor sie anderen gezeigt wurde, für sie sind die Szenen ein sehr lebendiges Fotoalbum, für die Zuschauer eine Alltagsstudie, die lange im Kopf bleibt.
Das erste Mal CDU wählen
Da ist der Schornsteinfeger Michael Creutz, der in den ersten Szenen – er ist 25 Jahre alt – gern seinen jugendlichen Körper herzeigt, im Fitnessstudio trainiert und sich auf den Dächern Wilmersdorfs darüber ärgert, dass er noch keine Freundin hat. Als er dann doch eine hat, will er für ein halbes Jahr in die USA. Von dort meldet er sich nur selten und als er zurückkommt, fällt die Mauer und er bekommt den Bezirk Lichtenberg zugewiesen. Die Kamera ist dann dabei, wie er mit seiner neuen Freundin Pferde striegelt, später mit den Kindern beim Abendessen sitzt – und schließlich, als er, der Grünen-Wähler, zum ersten Mal die CDU wählt. Da ist er 45 Jahre alt. „Man macht sich halt Sorgen“, sagt Creutz.
Es sind starke Szenen wie diese im Film „Schornsteinfegerglück“, die das Projekt „Berlin Ecke Bundesplatz“ einzigartig machen. Noch in 20 Jahren können Geschichtsstudenten diese Bilder anschauen, um zu sehen, wie man am Abendbrottisch saß in den 90er-Jahren, oder wie sich Handwerksberufe verändert haben. „Den Beruf des Schornsteinfegers wird es nicht mehr lange geben“, sagt Hans Georg Ullrich. Auch insofern sei es ein Zeitdokument. „Aber wir wollten nicht nur zeigen, wie sich die Lebensgeschichten entwickeln“, sagt Detlef Gumm, „sondern auch: Das Leben hat immer seine Qualitäten.“
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Es macht Spaß, mit ihnen über ihre Arbeit zu reden. Sie können zeigen, dass sie diesen Kiez wirklich gut kennen gelernt haben. Sie können über den Bundesplatz laufen, und über die Häuser Geschichten erzählen. Von einem Obdachlosen, einer alten, sehr einsamen Frau, von Kindern, die jetzt Weltreisen machen. Sie haben auch Szenen gefilmt, die sie dann doch geschnitten haben. Wenn jemand einen Seitensprung beichtet oder andere private Probleme, dann sei das nichts für sie. „Bei intimen Situationen haben wir uns gefragt, ob wir das wirklich zeigen müssen“, sagt Hans-Georg Ullrich. „Aber wir wollten den Leuten noch in die Augen schauen.“ Es sollte kein Dschungelcamp oder Big Brother werden.
Und doch gibt es Momente, in denen die Porträtierten nicht sympathisch erscheinen. Constanze Salm, die Frau des Star-Anwalts Ülo Salm, sitzt zu Beginn des Films „Feine Leute“ in ihrem Sportwagen und schimpft auf Ostberliner, die „immer nur die Hand aufhalten können“. Doch auch sie verändert sich, trennt sich von ihrem Mann, gründet eine Teddybär-Manufaktur. Als Ülo Salm wegen Betrugs ins Gefängnis muss, besucht sie ihn dort. Das ist anrührend, menschlich, schichtenübergreifend schön.
Das Glück der Tüchtigen
Solche Wendungen in der Geschichte waren für Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm weder geplant noch Zufall. „Es ist einfach das Glück der Tüchtigen“, sagt Gumm. „Jeder erlebt doch irgendwann einen großen Umbruch im Leben – wir haben nur probiert, dabei zu sein.“ Denn das haben sie in den vergangenen Jahren gelernt: Der Alltag kann die beste Schule sein, mit eigenen Problemen besser umzugehen. Hans-Georg Ullrich ist 70, Detlef Gumm 65, sie sorgen sich um eigene Kinder, die jetzt weit weg wohnen, oder um Krankheiten. „Die Filme helfen“, sagt Gumm, „gelassener zu sein.“
Sie sind überzeugt, dass die ARD ihr Projekt heute nicht mehr finanzieren würde. Auf Internetseite zum „Bundesplatz"-Projekt gibt es am Rand eine Spalte, in der sie 90 Menschen danken, die ihnen geholfen haben. Neben acht von ihnen steht jetzt ein kleines Kreuz. Es werden mehr Kreuze auf diese Liste hinzukommen. Doch mit jedem Jahr werden diese Filme an Wert gewinnen. Detlef Gumm bringt das in einen Satz: „Wer kann so etwas schon sagen: Das ist unsere wichtigste Arbeit im Leben.“