Eine Frage von Schuld und Sühne: Kenneth Lonergans imponierendes Drama „Manchester by the Sea“ mit einem großartigen Casey Affleck

Es ist eigentlich ein charmantes, kleines Städtchen, dieses Manchester by the Sea an der Küste von Massachusetts. Und doch legt sich ein kalter Schleier über den Hafenort in Neu England, so dicht und drückend wie die gepeinigten Seelenwelten der Menschen, die Regisseur Kenneth Lonergan in seinem dritten Kinodrama „Manchester by the Sea“ (nach „You Can Count On Me“ von 2000 und „Margaret“ von 2011) vor uns ausbreitet.

Wie der Regisseur und Drehbuchautor („Streets of New York“), der auch hier das Drehbuch verfasst hat, seine Charaktere behandelt, wie er von ihrem Schicksal, von Kapitulation und einem Willen zum Neubeginn, der freilich nur bedingt möglich ist, erzählt, ist von bestechender Offenheit, gespickt mit feinen Beobachtungen und trotz der bewegenden und niemals ins Kitschige abdriftenden emotionalen Katastrophen von leichtgängigem Humor durchzogen.

Großes Gefühlskinio mit ausgefeilten Dialogen

Man ist ja heutzutage mit Superlativen gern schnell bei der Sache. Aber „Manchester by the Sea“ ist fraglos ein Meisterwerk, großes Gefühlkino mit ausgefeilten Dialogen und mit einem phänomenalen Darstellerensemble, allen voran Casey Affleck, der hier zu Hochform aufläuft. Er spielt den gramgebeugten Lee Chandler, den wir anfangs als Hausmeister in einem Appartementkomplex in Boston erleben.

In einem Apartementkomplex in Boston geht Lee Chandler (Casey Affleck) stoisch seinem Job als Hausmeister nach. Da erfährt er, dass sein großer Bruder Joe gestorben ist
In einem Apartementkomplex in Boston geht Lee Chandler (Casey Affleck) stoisch seinem Job als Hausmeister nach. Da erfährt er, dass sein großer Bruder Joe gestorben ist © Universal | Universal

Er verrichtet seine Arbeit mit stoischer Ruhe. Der Mann mit den traurigen Augen schippt Schnee, bringt den Müll raus, lässt sich von Mietern gängeln, denen er Toiletten oder Duschen repariert. Er haust in einer spartanischen Minibude. Er sucht Zerstreuung in der Kneipe. Doch hinter der gleichmütigen Fassade brodelt es. Dieser Job, man spürt es, ist für Lee eine Art Buße, mit der er sich selbst zu strafen versucht für eine Jahre zurückliegende familiäre Tragödie, die ihn aus dem heimischen Manchester by the Sea in die anonyme Großstadt fliehen ließ.

Widerstrebend kehrt Lee in seinen Heimatort zurück

Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu: sein großer Bruder Joe (Kyle Chandler), ein Kerl von einem Mann, stirbt an Herzversagen. Er hatte einen Herzfehler. Aber keiner ahnte, dass der Tod ihn so schnell abberufen würde. Zuvor aber hatte Joe seinen kleinen Bruder als Vormund seines 16-jährigen Sohnes Patrick (Lucas Hedges), den er allein großgezogen hat, bestimmt. Widerstrebend kehrt der innerlich zerbrochene Lee zurück in den Ort, um sich um Patrick zu kümmern.

Er überlegt zunächst, wie er den ihm unangenehmen letzten Wunsch seines Bruders umgehen könnte. Er erledigt die Begräbnisformalitäten. Er verbringt Zeit mit Patrick und versucht, die ihm fremde Lebenswelt eines 16-jährigen Teenagers zu verstehen. Und er trifft auf seine einst alkoholkranke Schwägerin Elise (Gretchen Mol), die ihr neues Heil inzwischen bei dem streng gottesgläubigen Geschäftsmann Jeffrey (Matthew Broderick) sucht.

Schreckliche Ereignisse der Vergangenheit steigen wieder hoch

Auch das Zusammentreffen mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) ist unausweichlich, der er in der Vergangenheit unfassbares Leid angetan hatte, für das er ganz allein sich die Schuld gibt. Die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, die er so tief es ging in sich vergraben hatte, steigen wieder hoch und bringen Lee an die Grenzen seiner Kräfte. Was sich mitunter auch in einer sinnlosen Kneipenprügelei entlädt.

Immer wieder erfährt man in Rückblenden, wie Lees Leben in Manchester by the Sea verlaufen ist, wie hier bei einer Angeltour mit seinem großen  Bruder Joe (Kyle Chandler)
Immer wieder erfährt man in Rückblenden, wie Lees Leben in Manchester by the Sea verlaufen ist, wie hier bei einer Angeltour mit seinem großen Bruder Joe (Kyle Chandler) © Universal | Universal

In diesen epischen, mehr als zwei Stunden verknüpft Kenneth Lonergan virtuos Rückblenden mit dem aktuellen Geschehen, bleibt immer ganz nah an seinen Figuren und macht die Bürde der Trauer, die auf ihnen lastet spürbar. Wir erleben Lee, wie er mit seinem Bruder und dem kleinen Patrick mit dem Motorboot fröhlich zum Fischen auf’s Meer hinausfährt. Wir sehen ihn, als er noch mit seiner Frau Randi und den drei Kindern in Manchester by the Sea lebte, als lebenslustigen, kumpelhaften Kerl. Und wir müssen miterleben, wie er seine Familie durch fahrlässigen Leichtsinn zerstört. Diese Schuld lodert in ihm wie ein ewig peinigendes Feuer. Er wird es zumindest schaffen, die Flammen zu bändigen.

Eine von echten Menschen bewohnte Gefühlslandschaft

„Manchester by the Sea“ ist einer jener seltenen Filme, die nicht nur unterhalten, sondern auch zutiefst bewegen. Die hineinziehen in eine von echten Menschen mit all ihren Fehlern bewohnte Gefühlslandschaft. Der Film ist nicht nur Kenneth Lonergans Meisterwerk, sondern auch eine meisterliche Leistung von Casey Affleck, dem kleinen Bruder von Ben Affleck. Der hatte 1997 eigens für ihn eine Rolle ins Drehbuch seines Films „Chasing Amy“ geschrieben.

Schmerzhaft wird die erste Begegnung von  Lee (Casey Affleck) mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams)
Schmerzhaft wird die erste Begegnung von Lee (Casey Affleck) mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) © Universal | Universal

Casey Affleck spielte zuvor in TV-Serien und kleinen Kinoproduktionen, war später auch in leichtgängigen Komödien wie „American Pie“ oder „Der Fall Mona“ zu sehen. 2007 konnte er an der Seite von Brad Pitt seinen Durchbruch feiern in „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“. Für seine Rolle des Robert Ford wurde er sowohl für den Grammy als auch für den Oscar nominiert.

Regisseur Kenneth Lonergan (2. v. r.) bei den Dreharbeiten. „Manchester by the Sea“ ist erst sein dritter großer Kinofilm.
Regisseur Kenneth Lonergan (2. v. r.) bei den Dreharbeiten. „Manchester by the Sea“ ist erst sein dritter großer Kinofilm. © Universal | Universal

Die Verkörperung des Lee Chandler ist Casey Afflecks bislang größter Geniestreich. Mit hohem Einsatz und großer Tiefe formt der 41-Jährige hier das Bild eines resignierten Menschen, den die Frage nach Schuld und Sühne in eine geradezu klosterhafte Insolation treibt, und der schließlich doch erkennt, dass das Leben auch nach dem unbarmherzigsten Schicksalsschlag irgendwie weiter geht. Für diese Rolle wurde er gerade als bester Darsteller mit einem Golden Globe ausgezeichnet.

Es dürfte außer Frage stehen, dass „Manchester by the Sea“ auch auf der Liste der Oscar-Nominierungen, die am 24. Januar verkündet werden, zu den großen Favoriten zählen wird.