Roland Kaiser, Howard Carpendale, Jürgen Drews und Nicole in Berlin: Die Schlagernacht muss man unbedingt mal mitgemacht haben.
Die Schlagernacht des Jahres ist lang, fast sechseinhalb Stunden dauert sie. Insgesamt dreizehn der aus dem Fernsehen vertrauten Schlagerstars stehen nacheinander auf der Bühne: die Piepsmäuse und Windhunde, die Weltverbesserer und die stolzen alten Machos. Es ist eine spannende, unterhaltsame Mischung. Die Mercedes Benz Arena ist nahezu ausverkauft, und das Publikum ist auffällig jung. Bereits in der ersten Schlagerstunde beginnt mich eine tanzende Frau über eine Reihe hinweg leidenschaftlich zu herzen. Eine spontane Flucht nach Mallorca liegt in der Luft. Männer, die sich zum Schlager bekennen, sind bei der Schlagernacht deutlich in der Minderzahl. „Männer sind aber schon anwesend?“, scherzt Moderatorin Franziska Maushake. Und fügt noch hinzu: „Zwei, Drei.“ Das ist schon untertrieben.
Das Bemerkenswerteste an der Schlagernacht ist, dass sie so grundanständig ist. Ein bisschen singen, ein bisschen tanzen. Man trinkt sein Bier ohne es zu verschütten. Die Frau von heute will Spaß haben. Schließlich wird ein Mitsing-Hit nach dem anderen vorgeführt. Das Ganze hat etwas von einem riesigen Chortreffen, Textsicherheit ist hilfreich. Und es gibt sie, die magischen Showmomente. Der erste ist nach ungefähr zweieinhalb Stunden. Da schallt die Einleitungsmusik durch den Raum, das Publikum steht geschlossen auf und singt „Hello Again“, bevor es Howard Carpendale selber tut.
Howie ist das, was man einen ausgebufften Altstar nennt. Er hat auch genügend Hits, die er ziehen kann. Natürlich besingt er „Das schöne Mädchen von Seite 1“. Einen Hit möchte er Donald Trump schenken. Und dann singt der Saal „Dann geh doch“.
„Ein bisschen Liebe“ für die Welt
Einmal wird es sogar richtig politisch und es bleibt festzuhalten, das Berliner Schlagerpublikum ist alles andere als Pegida. Nicole erklärt ihre Botschaft für Partyverhältnisse sehr ausführlich. Es geht um Paris, Brüssel und Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen. Das Publikum folgt ihr, wenn sie „Ein bisschen Liebe“ singt. Die Sängerin selber ist so gerührt, dass ihr jemand von unten ein Taschentuch zur Bühne hochreicht. Nicole erinnert an diesem Abend ein wenig an den gerade verstorbenen Singer-Songwriter Leonard Cohen, der hatte eigentlich auch keine Stimme, aber die höchsten Ansprüche an sich und sein Publikum.
Ein 50-jähriger Typ sitzt in Reihe 16 neben mir, er wird nicht geherzt, vielleicht, weil er seine Frau dabei hat. Er habe die Karten nicht selber gekauft, erklärt er, sondern zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er wirkt ein bisschen missmutig, was Schlager angeht. Aber als Michelle und Matthias Reim überraschend ein Duett singen, steht er plötzlich. Er hätte Michelle noch nie so offen und strahlend gesehen, meint er hingerissen. Das müsse an Reim liegen. Der moderne Schlager lebt nicht nur von der deutschen Sprache, sondern seinen Grenzüberschreitungen hin zu Pop und Musical. Aber bei Matthias Reim kann man lernen, was einen gehobenen Song ausmacht. Seine Hits sind nur nüchtern mitsingbar, wer zu viel getrunken hat, bricht sich die Zunge. Der zerfurchte Jungentyp sieht sich in der Benz-Arena einem riesigen Mädchenchor gegenüber. Reim ist ein Highlight.
Vicky Leandros wohnt in Berlin, besingt aber lieber Lodz
Es gibt etwas, was bei dreizehn Künstlern, die sich im Halbstundentakt ablösen, manchmal nervt. Andauernd ist von Berlin die Rede. Der eine hat vor 30, 40 Jahren hier erstmals gesungen, Vicky Leandros wohnt in der Stadt, besingt aber lieber Lodz, manche schreien nur hysterisch Berlin, andere loben ausdauernd das Berliner Publikum. Man wusste gar nicht, wie schrecklich das Schlagerpublikum in anderen Städten sein muss. Vielleicht ist mancher auch nur nicht die Energie eines so großen brodelnden Saales gewohnt. Einen richtigen Berlin-Hit hat keiner im Repertoire. Da sind Pop und Rock schon einen Schritt weiter. Möglicherweise eignet sich die Metropole ja gar nicht für Heile-Welt-Titel.
Dreizehn Künstler, dreizehn Charaktere. Jeder will sich von seiner besten Seite zeigen, es wirkt überwiegend authentisch, zumal wenn man die Aufregung, das Zittern in der Stimme spürt. Der elegante Semino Rossi ist an diesem Abend merkwürdigerweise der einzige, der das Publikum zum Schunkeln animiert. Das scheint ansonsten aus der Schlagermode gekommen zu sein. Das Sportive wie bei Vanessa Mai geht immer. Es wird insgesamt wenig fotografiert, und die Lichtermeere halten sich in Grenzen.
Jeder sollte das im Leben einmal mitgemacht haben
Der deutsche Schlager ist durchaus in die Jahre gekommen. Die großen Barden kokettieren alle mit ihrem Alter. Erst behauptet Howard Carpendale, der älteste im Raum zu sein. Er ist 70. Dann kommt Roland Kaiser und behauptet dasselbe. Er ist 64. Ganz am Ende räumt Jürgen Drews den Siegerapplaus als Ältester ab. Er werde jetzt 72, verkündet er. Dabei will Drews in seiner fast zirzenischen Show mit aller Gewalt jung wirken. Er hat sich vorgenommen, das Publikum nach Mitternacht noch einmal richtig wach zu machen. Das kann er, Drews hat sein Bett im Kornfeld. Jürgen Drews ist ein Showprofi, ein Magier, ein Manipulator.
Den dagegen steif wirkenden Roland Kaiser kann er dennoch nicht toppen. Die Erklärung ist einfach: Während der König von Mallorca vor allem sich selbst besingt, gibt Roland Kaiser jeder Frau im Saal, eine Joana zu sein.
Der Schlager-Marathon ist zweifellos ein Selbsterfahrungskurs. Jeder sollte ihn einmal im Leben mitgemacht haben. Wer es zweimal tut, muss verrückt sein. Oder zumindest partysüchtig.