Die Betonmischmaschine rotiert, Hans Stein steigt auf einen Kran. Irgendwann fliegt er von der Baustelle. „Können Sie nicht lesen?“, keift der Bauleiter. „Betreten verboten“ steht auf einem Schild. Hans Stein ist Maler, auf seine Visitenkarte könnte er schreiben: Berliner Baustellen-Maler. Und da muss er halt selbst rauf auf den Bau, sonst klappt es nicht ohne Anschauung. Bei keinem anderen Künstler gibt es mehr Kräne.
Die Häuser des Potsdamer Platzes sehen aus wie schräge Zähne in einem sehr roten Mund. Das Autobahndreieck am Funkturm wirkt aus der Vogelperspektive wie eine Schneelawine, die sich durch die Stadtlandschaft frisst. Und die S-Bahntrasse am Hackeschen Markt ist ein Inferno in Rot-Orange. All die Wandlungen und Brüche dieser Stadt, ihre topographischen Verschiebungen – von der Vorwendezeit bis heute – hat der 80-Jährige mit dem Zeichenstift und dem Pinsel festgehalten. In der Zitadelle Spandau kann man Steins Stadt-Panorama nun anschauen.
Stein ist alles andere als ein Realist, die Farbe Grau existiert auf seiner Palette einfach nicht. Das ist schön, sogar der typisch düstere Berliner Winter ist bei ihm rosa. Rot, Blau, Gelb, Grün, die Komplementärfarben sind seine Freunde. Seine Väter, das sind die guten, alten Expressionisten. Karl Schmidt-Rottluff hat ihn einst korrigiert. Auch van Gogh lässt grüßen – das unfertige Holocaust-Mahnmal am Pariser Platz leuchtet in Zitronengelb, als hätte das wahnsinnige Genie seine Farbtuben in Berlin vergessen.
Als Chronist sieht Hans Stein sich nicht. Es fing ja alles ganz anders an. Er kam 1957 aus Dessau nach Berlin, weil ihm dort das Studium verweigert wurde, also bewarb er sich an der Hochschule der Künste in Charlottenburg. Der Rhythmus, das Tempo – alles war ihm hier fremd. „Also habe ich mich malerisch und zeichnerisch durch die Stadt gebissen“, erzählt er. „Ich musste mich der Stadt stellen, ihr Grundrauschen beobachten.“
Er zog los, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, den Block dabei – als Vorlage für das Gemälde im Atelier. Bis heute macht er das, ein Auto hat er sich nie angeschafft. Und das Grundrauschen, das braucht er. Die Bewegung in der Stadt, die Menschen, die Kommunikation mit ihnen, all dies funktioniert für ihn als Teil des Kunstwerkes. Er ist keiner dieser Künstler, die ihren Elfenbeinturm pflegen.
Hans Stein kann recht munter viele dieser Berliner „Weißt-Du-noch-Geschichten“ erzählen. Als er 1987 einen Anruf aus dem Büro der Berliner Festspiele bekam, die Ulrich Eckhard damals leitete. Ob er ein Motiv hätte, fragte man ihn, das zur 750-Jahr-Feier von Berlin aktuell wäre. Stein schickt seinen „Bauarbeiter“.
Der hat einen riesigen Presslufthammer in den Händen, trägt rosa T-Shirt, Latzhose, die Haare rot gefärbt. Das Bild könnte Stein heute wieder einreichen, modern ist es nach wie vor, und die Stadt immer noch nicht fertig. Von dem Original wurden damals Plakate gedruckt, als Werbung für die Mega-Feierlichkeiten. Das Gemälde ging mit anderen Berlin-Motiven anderer Berliner Künstler auf Wanderausstellung durch West-Deutschland. Schon damals wusste man: Berlin ist eine Baustelle.
Der Bauarbeiter gehört heute dem Stadtmuseum. Vom Westen der Stadt gibt es mehr Motive, kein Wunder, über 30 Jahre hat Stein mit seiner Familie in der Fasanenstraße gelebt, „die City-West war mein Jagdrevier“.
Dann musste er raus aus der Wohnung, Eigenbedarfsklage, nun lebt er mit seiner Frau in Pankow. Doch er fährt oft in seinen alten Kiez, der sich stark verändert hat. Die Mieten könnte er sich heute wohl kaum mehr leisten. Er sieht den Wandel trotzdem positiv.
„Ich bin froh, dass man jetzt einmal in den alten Westen investiert.“ Gerade war er wieder unterwegs, Richtung Schloss. Einige Zeichnungen hat er schon angefertigt vom Rohbau, der einst die Nation gespaltet hat. Ob der Bau 2019 fertig wird? Stein jedenfalls bleibt genug Zeit für seine Studien.
„Berlin – Stadt als Baustelle“: Zitadelle, Am Juliusturm 64. Spandau. Mo-So 10-17 Uhr. Bis 28. März. Katalog: 19,80 Euro