Ihr Großvater war SS-Offizier, seine jüdischen Großeltern entkamen Ausschwitz. Im Heimathafen Neukölln stehen beide auf der Bühne.

„Mein Opa war einer von Hitlers Leibwächtern, und ich liebe ihn.“ Die Buchstaben erscheinen an der Wand, während Esther Vorwerk im Ballsaal des Heimathafens Neukölln singt. Hell und klar gibt die junge Frau ihrem Opa, dem ehemaligen SS-Offizier, ein Geburtstagsständchen. Der Satz an der Wand - einer Beichte, einem Geständnis gleich - leuchtet währenddessen über ihr. Esther Vorwerk spielt im Stück „White Shadow“, das gerade am Heimathafen zu sehen ist, die Enkelin eines SS-Offiziers. Nur ist das keine fiktive Rolle für Esther. Die Schauspielerin spielt sich selbst.

Gemeinsam mit ihrem israelischen Kompagnon und dem Regisseur des Stücks, Itay Ganot, dessen jüdische Großeltern nur knapp einer Deportation nach Auschwitz entkamen. Obwohl ihre Großeltern den Holocaust so gegensätzlich erfuhren, werden die Enkel von ähnlichen Schatten heimgesucht. „White Shadow“ heißt das Stück deshalb: Sie wollen die dunklen Schatten aus der Vergangenheit, die eigentlich nicht ihre eigenen sind und die sie doch nicht los werden, in etwas Helles umwandeln.

„Die Vergangenheit meines Großvaters war immer präsent“

Esther und Itay lernen sich vor über einem Jahr in Berlin kennen. Obwohl seine Oma Itay immer sagt, „Don´t put your feet in Germany“, tut er das irgendwann doch. Er will ein Theaterstück inszenieren, um den Dialog der dritten Generation, der Enkel-Generation, zu eröffnen. Er sucht über das Internet nach einer Schauspielerin für das Stück. Als Esther das Gesuch sieht, will sie die „Rolle“ unbedingt. Schon immer hat sie nach einem Ventil gesucht, sich endlich Luft zu machen. „Die Vergangenheit meines Großvaters war immer präsent. Meine Familie hatte immer das Gefühl, schuldig zu sein und das irgendwie wieder gut machen zu müssen. Aber ich konnte nie wirklich darüber reden. Das war vielleicht einer der Gründe, weswegen ich überhaupt Schauspielerin geworden bin“, sagt Esther. Dass sie einen hebräischen Namen trägt, sei wohl auch darauf zurückzuführen. Auch ihre Eltern haben eben versucht, irgendwie damit fertig zu werden.

Nach dem Vorsprechen für „White Shadow“ holt Itay sie mit ins Boot. Auch wenn er ihr das nicht gleich gesagt habe, hat er sich sofort für sie entschieden. „Am Anfang haben wir sehr viel über uns gesprochen, das war sehr persönlich. Dann haben wir uns gefragt: Wie können wir daraus Kunst machen?“, sagt Itay. Erst als sie den Co-Regisseur Dimitris Tsiamis in die Arbeit integrieren, gewinnen sie genügend Abstand zu ihren Gefühlen, um produktiv zu arbeiten. Herausgekommen ist eine Inszenierung, die Schauspiel, Performance, Tanz und tragikomisches Kabarett zugleich ist.

„Hitler war genau so. Genau wie in diesem Film“

Esther lächelt nicht, ihr Gesicht ist ausdruckslos, als sie für ihren Großvater singt. Ihre Mimik offenbart den Konflikt, die Liebe zu ihrem Großvater und das gleichzeitige Wissen um dessen Vergangenheit, den sie seit frühester Kindheit mit sich herum trägt. Den sie so schwer mit sich vereinbaren kann. Esther steht mit nackten Füßen in einem Kreis aus Staub, Erde und Schmutz, und schaut das Publikum an. Sie spielt gerade eine Szene aus ihrem eigenen Leben. Es ist 2004 – Esther ist gerade 16 Jahre alt - als der Film „Der Untergang“ in die Kinos kommt und eine Debatte über Bruno Ganz’ Hitler Darstellung auslöst. Am Geburtstag ihres Großvaters, an der Kaffeetafel, fragt ihr Vater den Opa, wie Hitler eigentlich wirklich war. Statt zu schweigen - wie sonst - sagt ihr Opa: „Hitler war genau so. Genau wie in diesem Film.“ Es ist ein Schlüsselmoment, in dem für Esther wohl der innere Konflikt real wird. Sie stellt sich grundsätzliche Fragen, die sie auch ins Publikum feuert: Wie hat es sich angefühlt, Hitlers Haut zu berühren? Wen hast du getötet? Und dann: Wie kann ich jemals lieben? Das berührt.

Itay erzählt in seinem Monolog eine andere Geschichte. Die Erinnerungen seiner Großeltern sind ein so integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden, dass er sich fragt: „Alles, was ich gelernt habe, ist zu erinnern und diese Erinnerungen lebendig zu halten. Aber was bin ich, ohne das?“

Die Schatten, von denen beide verfolgt werden, haben Itay und Co-Regisseur Tsiamis zum Namensgeber und Motiv des Stücks gemacht. Es geht hier zwar im die Biographien einer SS-Enkelin und des Enkels von Holocaust-Überlebenden, aber sie können paradigmatisch für eine ganze Generation gelten. Die Schatten sind immer im Ballsaal des Heimathafens präsent, in den Monologen der Schauspieler, aber auch auf dem Boden von den Deckenscheinwerfern projiziert. Man kann sie nie vergessen. Am Anfang der Inszenierung reden beide ausschließlich Englisch, weil es die gemeinsame und allgemeine Sprache ist, doch je persönlicher und tiefer das Stück ihre Konflikte aufbricht, desto mehr verfallen beide in ihre Muttersprachen. Esther spricht dann auch Deutsch, Itay Hebräisch. Am Ende, nach ihrer Begegnung, entsteht gar ein Sprachmischmasch, das sich über ihren individuellen Hintergrund hinwegsetzt.

„Legt eure Probleme auf meinen Rücken!“

Die unterschiedlichen Mechanismen, mit der Vergangenheit umzugehen, zeigen Esther und Itay kabarettistisch. Esther lacht. Oberflächlich fröhlich versucht sie, ihren Konflikt wegzulächeln. „Alles ist super“, sagt sie dann auf Deutsch. Nur um in der nächsten Szene „Ich liebe Multikulti“ und „Ich habe Freunde auf der ganzen Welt“ zu rufen. Sie versucht ganz offensichtlich, etwas gut zu machen, das ihr Großvater 70 Jahre zuvor angerichtet hat. Dann sieht man sie, wie sie mit krummen Rücken durch den Staub kriecht. „Legt eure Probleme auf meinen Rücken! Schlagt mir ins Gesicht, ich habs verdient“, krächzt sie da.

All das wird sie selbst empfunden haben. Der Zuschauer glaubt ihr wegen der Authentizität des Spiels. Itay stellt danach die Geschichte der Israelis dar: Die Suche nach einem Zuhause, die ständige Flucht, die Gewalt. „Umarme die Handgranate! Stirb für dein Land“, ruft er da zu Beispiel und zeigt die Ambivalenz der israelischen Geschichte. Am Ende wälzen sich beide im Staub. Es ist der Staub ihrer eigenen Geschichte, vielleicht schon der Staub ihrer Erinnerungen, die im Stück verarbeitet werden. Sie umarmen sich lang. Die Geste bedeutet keine Auflösung des Stücks, kein Erfolg ihrer Theater-Therapie, kein Happy End. Die Familien und Freunde der beiden seien froh gewesen, dass sie dieses Stück auf die Beine gestellt haben. Froh, den Dialog eröffnet zu haben, den viele noch scheuen anzusprechen. „Ob ich meine Probleme durch das Stück ein bisschen lösen konnte, wird sich erst später zeigen. Es ist ja erst der Anfang“, sagt Itay.

„White Shadow – A ritual encounter“ im Heimathafen Neukölln.

Nächste Vorstellungen am 4., 5. November, 20 Uhr.