Sasha Waltz’ Deutung von Monteverdis Uroper „Orfeo“ verzaubert an der Staatsoper. Die Choreografin findet eine moderne Übersetzung.

Die Bühne der Staatsoper im Schiller-Theater sieht aus wie eine nüchterne Arbeitsfläche – zubereitet wird Kunst, vor den Augen und Ohren des Publikums. Das theatrale Als-Ob, die illusionäre Scheinwelt der Oper, könnte sich höchstens hinter den mächtigen Drehwänden aus Holz an der Rückseite auftun. Hinter ihnen wird man später jedoch nur einen mit Wald bemalten Prospekt sowie noch später Plutos Totenreich erblicken, sparsam dargestellt im Bühnenbild von Alexander Schwarz.

Unter den Klängen eines galanten musikalischen Mottos, welches sich als roter Faden durch Claudio Monteverdis musikalischer Fabel „Orfeo“ zieht, tritt eine blau gewandete Tänzerin auf, durchmisst den Raum mit zügigen Sprüngen, freudig. Die Tänzerin aus der Kompanie von Sasha Waltz leitet – als initialer Kontrast zum tieftraurigen Folgenden – eine Freudenfeier ein: Die Hirten zelebrieren das Ende der Liebesqualen des Sängers Orfeo, denn er wird in dieser Einleitung seine Euridice heiraten. Die erste Ansprache dazu hält die Schutzgöttin des Künstlers: Frau Musica.

Ein legendärer Kastratensänger

Da diese allegorische Figur auch die Schutzheilige von Monteverdi war, offiziell des ersten Opernkomponisten überhaupt, hat bei der Uraufführung der Oper im Palazzo Ducale in Mantua vor der mächtigen Gonzaga-Familie im Jahr 1607 ein Weltstar diese Partie übernommen: Gualberto Magli. Um den hochgebildeten Kastraten ranken sich Legenden ob seiner Stimme und seiner Darstellungskunst.

Die Sopranistin Anna Lucia Richter – sie tritt später auch als sterbende Euridice in Erscheinung – stellt im einfarbigen roten Kleid von La Musica nicht nur als einziges Element auf der Bühne den Kontrast zur blauen Tänzerin dar, sondern tritt auch als Nachfolgerin der Sängerlegende Magli in große historische Fußstapfen. Sie vermag diese mit einer beachtlich vielfarbigen Stimme auszufüllen, die sich in ihren weichen Einsätzen und der Flexibilität der Lautstärke dem Ohr des Hörers so anschmiegt, wie es sich für eine Allegorie auf die Tonkunst, sozusagen den kunstvoll gestalteten Ton an sich, gehört.

Ein ungeordneter Haufen an Musikern

Bei der Ansammlung der Musiker links und rechts der Bühne, die als „Freiburger Barockconsort“ eine Abordnung des berühmten Freiburger Barockorchesters darstellt, muss man fast von einem ungeordneten „Haufen“ sprechen. In dieser Aufstellung rufen die 24 Instrumentalisten unter Leitung des Dirigenten Torsten Johann eine Epoche in Erinnerung, in der noch niemand mit Bestimmtheit sagen konnte, was eine Oper eigentlich ist. Auch Monteverdis „Orfeo“ ist, trotz deutlicher Ansätze, viel weniger ein geschlossenes Werk, als es heute in Musiklexika suggeriert wird, wenn es quasi in einem Atemzug mit „Zauberflöte“ und „Götterdämmerung“ genannt wird.

„Orfeo“ nahm auf gesellschaftliche Konventionen Rücksicht, auf die Abhängigkeit von Monteverdis Gönner, dem Gonzaga-Herrscher – und dies nicht irgendwo mittendrin als Schleichwerbung, sondern mit einer mächtigen Trompeten-Toccata in der ersten Minute, dem traditionellen musikalischen „Siegel“ der kriegslüsternen Gonzagas bei Hofe und auf dem Schlachtfeld.

Die Fanfare kennt man aus dem Fernsehen

Die einstige Herrscherfanfare kennt heute, europäischen Live-Fernsehübertragungen sei Dank, jeder. Was für eine Rauf- und Kriegslust sie in ihrer historischen Variante, aus schieren Rohren ohne moderne Ventile geschmettert, beim Hörer hervorrufen kann, erfahren wir nun in der Staatsoper. Ein hingerotzter Aufwärtslauf unter stetig dröhnender Begleitung der historischen Posaunen-Vorläufer – die Aufführung will nicht kunstvoll verschleiern, dass Monteverdi diesen Instrumenten und ihren Spielern gerade erst das reine kriegerische Lärmmachen abgewöhnt hatte.

Ebenso weit vom kultiviert vereinheitlichten Mischklang des modernen Orchesters entfernt sind die Streicher und Blockflöten auf der anderen Seite unter Anführung der Geigerin Petra Müllejans. Jeder macht, wie die Musiker damals auch, seine höchst individuellen Verzierungen, keiner achtet vermeintlich auf den anderen – und wir hören eine beglückend lebendige Klangwoge, aus der immer wieder neue, kleinste Tonfiguren wie Funken hervorsprühen, über die Länge eines Abends, an dem man durch Hören und Sehen satt und fast zu müde für den Heimweg ist.

Den Zeitgeist in die Gegenwart holen

Sasha Waltz als Regisseurin und Choreographin ist sicherlich die richtige Frau, um nicht unbedingt alle historischen Details des frühen 17. Jahrhunderts, aber die künstlerische Haltung dahinter in die Gegenwart zu transportieren. Es wird Etliche, die um jeden Preis charismatische Regieansätze gewöhnt sind, irritieren, dass ein übergreifender Einfall in dieser Aufführung kaum zu finden ist. Vielmehr nutzt Waltz ihre Energie, um sämtliche Figuren auf der Bühne trotz natürlicher und gleichsam ungeschminkter äußerer Erscheinung so intensiv und in jeder Bewegung zu tanzenden, singenden und spielenden Kunstfiguren zu formen, dass wir diesen Figuren am Ende fast näher sind als solchen, die unter dem Diktat von Natürlich- und Glaubwürdigkeit stünden.

In ihrem ganzheitlichen Anspruch an die Sänger, nicht in irgendwelchem historisch-barocken Mummenschanz gemahnt Sasha Waltzs Bühnenmenschen-Bild durchaus an Monteverdi-Sänger wie Magli, der, nicht minder kundig, zu seinem Gesang die Harfe geschlagen haben soll. Wer seine Darsteller heute wie Sasha Waltz dazu erzieht, auf der Bühne künstlerisch entsprechend vieldimensional in Erscheinung zu treten, dem kann die naseweise Frage nach einer „Haltung“ zum Stück, zu Orfeos Gang in die Unterwelt und zu seiner toten Geliebten, herzlich egal sein. Viel Energie widmet Waltz ihrem Orfeo Georg Nigl.

Eine Fabel von der Vergänglichkeit

Der fulminante Tenor, der ja immerhin den Höllenfährmann Caronte (mit schlankem Bass: Douglas Williams) mit seinem Gesang betören soll, gebietet trotz alles tänzerischen Einsatzes souverän über die schwierige Partie, geht in seinen flehenden Koloraturen dann aber dennoch bewusst an die Grenze des sängerisch Schönen. Das Ensemble des Abends allerdings ist neben den vielen Solisten das Vokalconsort Berlin, das durch seine genaue Befolgung und Ausfüllung der Waltzschen Choreographie die alte Fabel von Gesang und Vergänglichkeit souverän, lebendig und klangschön ins Heute überführt.

Schiller-Theater, Bismarckstr. 110, Charlottenburg. Tel. 20354555, Termine: 3., 5. und 6. Juli jeweils um 19.30 Uhr