Je-hiii-tiii: In Kreuzberg kann man die Technik des Jodelns erlernen. Unser Autor hat es ausprobiert und eine faszinierende Gesangskunst kennengelernt, die viele zu Unrecht für provinziell halten.

Wir stehen in einer Kreuzberger Wohnung. In der großen Küche. Unter dem Dach. Über der Schlesischen Straße. Zwischen dem Club der Visionäre und der geräumten Cuvry-Brache. SO 36. Im Lido spielt die Kleingeldprinzessin. Ein Junkie lässt im Stehen alles laufen. In der einen Hand den Straßenfeger. In der anderen Hand, das sieht man von hinten nicht so genau, kann sich’s aber denken.

Aber wir sind in der schönen Küche. An der Wand hinter dem Esstisch ein Bild eines befreundeten Künstlers. Und am Schrank hängen Schallplattencover. Trio zum Beispiel. Das berühmte Plattencover mit dem Herz und dem durchgestrichenen Herzen. Nur, in in diesem Moment merken wir davon nichts. Unsere Augen sind geschlossen. Wir machen ein stimmhaftes, stimmbandreibendes, in der Brust erzeugtes „Ja“ und gleiten in eine Art stimmloses, eben nicht reibendes, im Kopf erzeugtes und tänzelnd zwischen den Frequenzen oszillierendes „I“. Wir jodeln. Ja-iiiiii-Ja-iiiii-Ja-iiiiii. Doreen Kutzke ist Jodel-Lehrerin. Und das ist ihre Küche. Und genau hier, manchmal auch im Wohnzimmer am anderen Ende der Wohnung, da ist Berlins einzige Jodelschule.

Blondes Haar und grüne Augen

Doreen, anders ist es wirklich nicht zu sagen, ist eine unverschämt hübsche und sofort für sich einnehmende Frau. 39. Richtig langes, blondes Haar. Grüne Augen. Ein schreiend roter Lippenstift. Vom Ja-iiii sind wir zu Ju-huuuuuuu gekommen. „Hab ich Lippenstift auf den Zähnen?“, fragt sie. Kein Lippenstift auf den Zähnen. Auch kein Spinat.

„Das müsstest du mir sagen. Das muss man einer Frau immer sagen, wenn sie Lippenstift auf den Zähnen hat. Das wär’ ja peinlich.“

Wirklich kein Lippenstift.

„Es muss auch laut sein. Jodeln muss man immer auf Distanz denken.“

Der größte Fehler beim Jodeln ist die Zurückhaltung. Gejodelt wurde, um weite Distanzen zu überbrücken. Die Jodelstimme war in den Bergen eine Methode, über entfernte Distanzen zu kommunizieren. Lange bevor es Handys gab. Bevor man whatsappte. Der Älpler rief so seine Kühe. Der Hirte seine Schafe. Von Tal zu Tal. Von Berg zu Berg.

Man darf nicht zuviel denken

Beherrschung, Bescheidenheit, das antrainierte Nicht-Laut-Werden muss man vergessen, wegschmeißen. Man muss vor allen Dingen vergessen, über sich und seine Außenwirkung nachzudenken. „Sobald deine Augen nach oben gehen, weiß ich, der Ton wird falsch.“ Wer nach oben schaut, denkt zu viel. Wer nach oben schaut, hat Angst, zu laut, zu forsch zu sein. Wer laut und aufbrausend im Alltag der Büro-Welt redet, gilt schnell als Choleriker, als taktlos. Jodeln geht nur laut. „In der Bruststimme ist es meist ein ,A’ oder ein ,O’, so eine Mischung aus beidem. Die Kopfstimme macht meistens ein ,I’ oder ein ,Ü’“, erklärt Doreen die Lautaufteilung.

Wenn ein Mensch ans Jodeln denkt, denkt er an Heidi, an das Jodalahüti. Wenn ein Mensch ans Jodeln denkt, denkt er in Silben. Dabei sind die Silben nur der eine Teil des Jodelns. Der andere, der wirklich charakteristische Teil des Jodelns ist der Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme.

Heidi Klum, unser Bergisch-Gladbach-All-American-German-Supermodel, sie war mal in einer amerikanischen Talkshow, erinnert sich Doreen. Und weil sie eben Heidi heißt, ein Jodel-Name, und weil sie eben aus Deutschland kommt und für Amerikaner und den Rest der Welt Deutschland diese lustige Mischung ist aus Nazi-Kram, Lederhosen, Bier und Alpen, deswegen wurde sie gefragt, ob sie denn jodeln könne. Heidi sagte brav: of course. Und machte das Jodalahüti. Aber eben nur in einer Stimmlage. Ohne den Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme. „Wie im Musikantenstadl. Die Lieder dort sind häufig so geschrieben, dass die Jodler gar nicht gejodelt, sondern gesungen werden“, weiß Doreen.

Der Zombie wird gejodelt

Wer wissen will, was Jodeln bedeutet, wer die Technik begreifen will, anhand eines Songs außerhalb des Folklore-Kontextes, der muss sich den Refrain von „Zombie“ der Cranberries anhören. Zo-ombie-hie-hie-hie-hie. Das ist Jodeln. Der Wechsel zwischen Kopf und Brust. Kopf und Brust. Hin und Her. Zom – hin – bie – her – bie – hin – hie – her.

1999 gibt Doreen ihren ersten Jodelworkshop in Berlin. Fünf Jahre ist sie damals. Doreen kommt aus dem Harz. Aus einem Ort, der Wienrode heißt und knapp unter tausend Einwohner hat. Was wenige wissen: Gejodelt wird nicht nur in den Alpen. Nicht nur in Bayern oder in der Schweiz. Auch im Harz wird gejodelt. In ihrem Dorf gibt es eine Frau, die eine Kinderjodelgruppe leitet. So kommt Doreen zum Jodeln. Sie singt in der Volksmusikgruppe des Ortes, im Armeesportverein. Sie tritt im DDR-Fernsehen auf. Aber Jodlerin als Karriereoption, daran ist in der DDR nicht zudenken.

„Diese Frage hat sich mir nie gestellt. Ich hab’ gedacht, ich mach halt meine Ost-Karriere. Du lernst einen Beruf. Und weiter geht es.“

Die Neunziger in Berlin

Die Mauer fällt. Doreen wird erwachsen. Ost-Berlin, das war ihr Sehnsuchtsort. Als Kind, als Jugendliche besucht sie dort Verwandtschaft. Berlin ist ihr Abtauch-Ort. „Auf dem Dorf musstest du jedem Guten Tag sagen. Guten Tag. Guten Tag. Guten Tag. Das habe ich immer gehasst. Da steht der blöde Typ den ganzen Tag am Zaun, und du musst Guten Tag sagen, sonst sagen deine Eltern zu Hause, heute hast du dem ja gar nicht guten Tag gesagt.“

Mit neunzehn also nach Berlin. Träume leben. Es sind die Neunziger. In Bars arbeiten. In der Maria. Im Eimer an der Rosenthaler Straße. Heute ist dort ein Hotel und ein Asiate. Als Doreen dort ist, wird noch Musik gehört. Geraucht. Geknutscht. Gekotzt. Gefeiert. Sie arbeitet sogar an der Rezeption einer esoterischen Sauna. Doreen findet sich, findet Berlin, findet alles, was man finden muss.

Der erste Jodel-Workshop jedenfalls, der kam durch Zufall. Sie hat sich im MC-Jodeln versucht. Sie legt elektronische Platten auf. Zu Chicago House Musik jodelt sie unter den Plattentellern, damit sie niemand sieht. Sie macht Musik. Straßenmusik manchmal, um Geld zu verdienen. Jodelnd auch. „Aber ich dachte, ich geh’ den Leuten auf die Nerven dabei.“ Und irgendwie spricht sich herum, dass sie jodeln kann. Eine bayerische Theaterschauspielerin fragt sie, ob sie ihr für eine Rolle das Jodeln beibringen kann. „Ich weiß es nicht, aber ich kann es versuchen“, sagt Doreen. Und der Versuch wird zu einem Erfolg. Isolde, so heißt die Schauspielerin, lernt Jodeln für ihr Stück. Und Doreen hat das erste Mal als Jodel-Lehrerin gearbeitet.

Es gibt kein Jodel-Diplom

Anders als Jazz-, Pop- oder Opern-Gesang kann man Jodeln nicht studieren. An keiner Universität. Das Jodel-Diplom ist eine Erfindung von Loriot, und trotzdem fragen die Leute immer danach. Doreen gibt nur Workshops und Einzelunterricht. Seit 2000 in Deutschland, in Europa. 2005 in New York. Nächste Woche ist sie in London und erarbeitet zusammen mit der Goldsmith Academy (die berühmte englische Akademie, Kunstsuperstars wie Damien Hirst und Tracey Emin, aber auch Musikgrößen wie Damon Albarn und Brian Molko waren Studenten dort) eine Jodel-Klanginstallation. In der Swiss Church in London werden über mehrere Lautsprecher mehrere Jodler zu hören sein. Danach Reykjavik. Wie Jodeln an einer Hochschule. Jodeln ist Doreen Ticket um die Welt. Sogar Anfragen aus Korea hatte sie schon.

Jodeln ist international. Pygmäen jodeln, die Inuit. In Afghanistan, in Polen, in Russland, Rumänien und Bulgarien wird gejodelt. Nicht immer im gleichen Harmonieverständnis wie das stereotype alpenländische Jodeln. In der amerikanischen Country Musik kennt man das Blue Yodeling. Jimmie Rodgers hat es populär gemacht mit seinem „Blue Yodel No 1“. „Because I get more women than a passenger train can hold. Jodalahidi“, heißt es im Text des Klassikers. Deutsche und Schweizer Einwanderer haben den Jodel-Einfluss in die amerikanische Musik importiert.

Jodeln ist immer ein Ausdruck radikalen Gefühls. „Jodeln ist absolut. Es ist nicht ein bisschen freudig, sondern extrem freudig. Und es ist nicht ein bisschen traurig, sondern gleich oh-gott-traurig“, sagt Doreen.

Jodeln ist radikal

Genug Theorie. Doreen jodelt eine neue Jodellinie vor. Je (Bruststimme)-hi (Kopfstimme)-ti (wieder Kopf). Der Reporter macht also Je-hi-ti nach. Den Übergang von Burst zu Kopfstimme nennt man Jodelschlag. Die Stimmlippen schlagen dann sehr kurz aneinander. Im Hals fühlt es sich wie ein Klacken ein. Wie ein holpriges Einrasten von Zahnrädern. Er soll nicht besonders weich, sondern abrupt wie ein Schluckauf sein. Das Je geschmettert, aus voller Kehle, das hi-ti, hoch im Kopf. Und Doreen macht darüber ein Ri (Kopf) – jo (Brust) – hu (Kopf). Der erste gelungene, zweistimmige Jodler ist ein voller Genuss. Zusammen jodeln erzeugt eine Nähe, ein intensives Gefühl des Verbundenseins. Wir sind laut. Sehr laut. Eigentlich zu laut für eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Selbst für Kreuzberg zu laut. „Oben ist das Dach. Da drüben ist eine Außenwand. Von unten gab es noch nie Beschwerden. Und die Wand da drüben ist eine Schallschutzwand. Der Vormieter hat Kontrabass gespielt.“

In der Woche hat Doreen sechs Einzelschüler, die sie unterrichtet. Dann noch Workshops. Für Versicherungen, Werbeagenturen, gerade hat das Umweltministerium angerufen. Jodeln ist so etwas wie der musikalische Hochseilgarten, das melodische Bogenschießen. Es schweißt zusammen. Soll Anspannungen lösen. Teams bilden. Die Personalabteilungen entdecken es gerade und investieren in Doreens Kurse. Auch wenn die Mitarbeiter und Menschen, die nur an Heidi denken, beim Jodeln sich häufig nichts darunter vorstellen können. „Sind sie jetzt Jodel- oder Yoga-Lehrerin“, fragen manche. „Jetzt machen wir mal Oktoberfest-Feeling“, haben die hypercoolen Werber gesagt, so richtig ironisch. Und am Ende fanden sie’s doch gut.

„Immer bis zum Scheitern und noch weiter“

Das Jodeln ist kein Gag. Kein Witz. Doreens Jodeln ist nicht die zwölffache Steigerung von gesteigerter Ironie. Sie liebt das Jodeln. Den Ausdruck darin. Die Technik. Genauso wie andere Operngesang lieben. Oder den Scat im Jazz (übrigens auch mit dem Jodeln verwandt).

Zum Abschluss den letzten Jodler. Der Reporter macht das Ri-jo-hu in Endlosschleife. Doreen ein Ho-la-hu-di darüber. Der Reporter kommt raus. Er scheitert an drei Lauten auf eineinhalb Sekunden verteilt. Der Schweizer Musiker Peter Hinnen hat für das Guinness Buch 22 Jodeltöne in einer Sekunde geschafft. Doreen muss lachen. Laut. Fast so laut wie das Jodeln. Wir sehen ihre weißen Zähne. Kein Lippenstift darauf. „Immer bis zum Scheitern und noch weiter. So lernt man das Jodeln.“