Klassik

Ivo Pogorelich - der rebellische Pianist

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Matthias Nöther

Foto: Alfonso Batalla,Bilbao,Spanien

Der in Moskau ausgebildete Klaviervirtuose Ivo Pogorelich begann seine Karriere voller Eitelkeiten, legte sich sogar mit Herbert von Karajan an. Jetzt ist er ruhiger geworden. Ein Treffen in Berlin.

Wer mal einen echten Schnösel sehen will, der hier war mal einer. Es sind Filmaufnahmen aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Warschau 1980: Der Pianist Ivo Pogorelich, gerade 24 Jahre alt und mit einer herausgewachsenen Stufenfrisur wie ein sitzengebliebener Primaner, gibt eine Pressekonferenz.

Der Grund: Pogorelich ist in der zweiten Runde des Internationalen Chopin-Wettbewerbs, damals wie heute der berühmteste Klavierwettbewerb der Welt, ausgeschieden.

Er darf sein Programm nicht in der Endrunde mit Orchester spielen – das ist es, was Pogorelich erbost. „Ich bin hierhergekommen, um ein neues Kapitel in der Interpretation von Chopin einzuleiten, nicht um an dem Wettbewerb teilzunehmen“, erklärt der junge Mann kaugummikauend auf Russisch. „Meine Chopin-Interpretation ist nicht nur extravagant, sie ist das Ergebnis eines wohlüberlegten Konzepts, das auf dem Notentext und den Quellen beruht.“

Ein Idol junger Klavierliebhaber

Der junge Pianist stachelte auf, polarisierte, zog vor allem die junge Generation der Klavierliebhaber auf seine Seite und wurde für viele Jahre ihr Idol. Aus Protest überreichten ihm Warschauer Musikstudenten eine Alternativ-Trophäe: „Für Ivo Pogorelich, unseren Gewinner“. Später werden ihm Kenner seinen eigenwilligen, manieristischen Interpretationsstil vorwerfen. Der Pianist gehört zu jenen, die lustvoll die Grenzen der Werktreue überschreiten.

Im Herzen eine Rebell geblieben

Ivo Pogorelich, heute 55 Jahre alt, lehnt sich grinsend im Sessel der Lobby im Regent Hotel am Gendarmenmarkt zurück, eine rote Strickmütze tief ins Gesicht gezogen. Er ist gerade auf Werbetour für seinen Beethoven-Abend, der am 12. Februar 2014 in der Philharmonie stattfinden wird. Zweifellos ist er in seinem Herzen ein Rebell geblieben. „Ich hatte in den 80er-Jahren als Pianist eine privilegierte Position: Ich musste mich keinem Diktat unterwerfen und konnte mir die Stücke aussuchen. Ich machte auch nur eine Aufnahme pro Jahr, im Dienst der Musik. Mit dem Ergebnis, dass diese Aufnahmen leben. Wie viele von Karajans Aufnahmen leben heute noch? Er hat einfach zu viele gemacht.“

Die Plattenfirmen reißen sich um ihn

Die westlichen Plattenfirmen sollten sich nach dem Wettbewerbsskandal um ihn reißen. Doch Pogorelich spielte auch hier nur das, was er wollte. Wer die raren Aufnahmen aus den Jahren nach Warschau hört, hört ein Feuer, das die Stücke zunächst einmal glühend heiß werden lässt, bevor der Interpret sie quasi neu schmiedet: Beethoven, Liszt, Chopin, Schumann, Skrjabin, Scarlatti. Die letzte Aufnahme stammt von 1995, dann wurde es still um Pogorelich, zunächst auch im Konzertsaal. Seine Aufnahmen allerdings zählen bis heute zu den bestverkauften aus dem Klavierkatalog der Deutschen Grammophon.

Mit Karajan überworfen

Mit dem mächtigsten Mann der Klassikindustrie um 1980 hatte sich Pogorelich angelegt, da war er nicht mal 30 Jahre alt. Karajan wollte ein Tschaikowski-Konzert bereits in der Probe aufnehmen. Als Pogorelich das merkte, sabotierte er die Probe mutwillig – er spielte einfach ein anderes Tempo. Sie sollten sich einen anderen Dirigenten suchen, sagte Karajan. Genau das habe ich vor, Maestro, sagte Pogorelich.

„Die Plattenindustrie hatte in den 80er-Jahren eine unglaubliche Macht, sie konnten Karrieren formen und zerstören“, resümiert Ivo Pogorelich heute. Seine riesigen Hände, die sonst Beethoven und Liszt in schwergängige Steinway-Tasten graben, formen einen Erdball. „Ich konnte mich den Firmen widersetzen, weil die erste Phase meiner künstlerischen Selbstfindung damals schon vorbei war.“ Mit zwölf Jahren wurde Pogorelich von seinen Eltern in Belgrad einem sowjetischen Talentscout übergeben, der ihn in Moskau ans elitäre Musikkonservatorium brachte. „Zehn Jahre habe ich in der Hauptstadt eines fremden Riesenreichs verbracht, das ist kein angenehmer Ort für einen Jugendlichen“, erinnert er sich: „Da lauern Rivalitäten, rohe Machtausübung. In dieser Umgebung musste ich überleben – und ich musste lernen, die richtigen Gelegenheiten zu nutzen.“

Seine Lehrerin wird seine Ehefrau

Das System der Wettbewerbe, auf dem das gesamte Musikleben des Ostblocks aufgebaut war, sah Pogorelich nicht als Gelegenheit für echte Kunst. Deshalb vielleicht seine offen zur Schau gestellte Arroganz in Warschau 1980. Als größte Gelegenheit in seinem Leben sieht er heute die Begegnung mit seiner Klavierlehrerin und späteren Frau Aliza Kezeradze, einer Enkelschülerin von Franz Liszt. Da war er achtzehn, sie gut 20 Jahre älter als er. „Es war eine Party in Moskau, ich spielte ein bisschen Klavier, und dann kam sie und sagte mir, ich sollte meine Hand anders halten. Ich blickte sie entgeistert an.“

Gemeinsame Liebe zu Beethoven

In diesem Moment habe er gespürt, sagt er, dass diese Frau ihm etwas beibringen konnte, was er in sechs Jahren bei hochberühmten Moskauer Lehrern nicht gelernt hatte. „Da war ich auch bereit, meine Handstellung zum vierten Mal zu verändern. Einige Monate später saßen wir dann zum ersten Mal gemeinsam über einer Beethoven-Sonate. Wir haben vier Takte in drei Stunden geschafft.“

Eine Begegnung, bei der es um ein klaviertechnisches Detail geht, hat sein Leben verändert? Pogorelich lacht. „Was ist Technik?“ Es gehe doch um nichts weniger als darum, den Klang aus dem Instrument zu ziehen. Darum hätten Beethoven und Liszt ihr Leben lang gerungen. Das Klavier sollte alles können – zum Beispiel die menschliche Stimme annehmen. „Viele zweite Sätze aus Beethoven-Sonaten sind eigentlich italienischen Belcanto-Arien. Für diese Intensität wollte Beethoven auch die Pianisten näher am Klavier haben.“ Beethoven habe gesagt, die Stellung der Hand über den Tasten müsse sein, als ob man einen Apfel halte. „Kompakt, sehr kompakt.“ Pogorelich sagt das abgehackt und auf Deutsch – als wolle er den deutschen Pragmatismus eines Beethoven veranschaulichen.

Geschmack an sozialen Medien

1980 wie heute ist Pogorelich ein Idol junger und jung gebliebener Klavierliebhaber. Das wird man in der Philharmonie wieder erleben können. Pogorelich, der sich nach dem Tod seiner Frau 1995 lange zurückzog, hat nun Geschmack an sozialen Medien wie Facebook und Twitter gefunden – denn er will vor allem junge Leute erreichen und sie dort abholen, wo sie stehen. „Für jemanden wie mich scheinen sie auf den ersten Blick vollkommen gaga, weil sie den ganzen Tag auf ihr Smartphone glotzen und mit Headsets sprechen. Aber weil sie in einer virtuellen Welt leben, haben sie hier hervorragende Instinkte entwickelt – sie lassen sich von öffentlicher Meinung kaum beeinflussen und folgen ihrer Intuition. Sie schätzen mich als Künstler, nicht als Star“, sagt er und schlussfolgert: „Ein sehr kompetentes Publikum.“ Plattenfirmen und Dirigenten mag Ivo Pogorelich enttäuscht haben – seinem Publikum soll das nicht passieren.