Als Fotografin dokumentierte Barbara Klemm die Geschichte der Deutschen über Jahrzehnte. Das „Familienalbum“ ist nun im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen. Es sind Bilder einer verschwundenen Zeit.

Vielleicht täuscht der Eindruck. Aber wie Barbara Klemm, eine der renommiertesten deutschen Fotoreporterinnen, da so inmitten ihrer 300 Fotografien im Berliner Gropius-Bau steht, wirkt die zarte Frau schon etwas verloren. Schließlich managt sie ihre eigene Zeitschleife. Hier hängt, durchgehend in Schwarz-Weiß, nichts weniger als das Geschichtsbuch der Deutschen. Barbara Klemm fotografierte mehrere Jahrzehnte für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Und dieses kollektive Familienalbum hängt nun – von ihr fein geordnet – an den Wänden des Ausstellungshauses, so, als ließe sich Geschichte irgendwie ordnen. Bilder, einer verschwundenen Zeit: Studentenrevolte, Joschka Fischer in Turnschuhen, Kalter Krieg, Alltag im Osten und im Westen, Demonstrationen in Ost-Berlin im Herbst 1989, Abzug der letzen russischen Soldaten. Wir sehen den Händedruck der zwei Helmuts, Schmidt am Ende und Kohl am Anfang der Regierung. Am Schluss ist der Mann aus Oggersheim fast alleine bei der Betrachtung jener Objekte der Geschichte im Deutschen Historischen Museum.

Auf die Frage, welches ihr politisch einprägsamster Termin war, kommt die Antwort fix. „Der Mauerfall natürlich!“ Das Jubel-Balkonfoto mit Helmut und Hannelore Kohl am Einheitstag 1990 kennt wohl jeder.

Ihr Bild von 1989 ist ein anderes: Die Szenerie liegt im Dunkel. Der Einheitskanzler steht bei seiner Dresdner Rede auf einer wie von innen illuminierten Tribüne, Jubel um ihn herum, überall Fahnen, deutsche Fahnen. Das muss Klemm damals erschreckt haben. „Diese Fahnen zeigten den Nationalismus. Wir wissen ja heute, was in Deutschland alles passieren kann“, sagt sie.

Eine Frau, allein unter Männern

Politik hätte sich über die Jahre verändert, findet sie. Erich Salomon, einer ihrer Vorbilder, hätte in seiner Zeit Politiker aufgenommen, wie sie im Sessel schliefen. „Das Emotionale“, sagt sie, „ist heute in den politischen Sphären nicht mehr zu haben.“ Es gäbe fest arrangierte Pressetermine, wo Politiker nur noch „vormachen“, wie sie eigentlich sein wollen.

In den Sechzigern und Siebzigern war sie mitten drin bei den Demos in Frankfurt, mischte sich in die aufgewühlte Menge. Die Bilder wurden nichts, sagt sie. „Man muss Abstand halten, das war meine Lehre.“ Der Blick von oben auf das Geschehen, jene Vogelperspektive erkennt man oft auf ihren Fotos. Da sind jene Neonleuchten am nächtlichen Grenzstreifen, in ihrer starren Aufreihung erzählen sie viel über die Verschlossenheit des DDR-Systems.

Als sie anfing zu fotografieren, war sie noch die einzige Frau im Pulk männlicher Fotografen im Kampf um das „beste“ Bild. Einmal sollte sie auf der Messe Leipzig Erich Honecker fotografieren, nur ihr fehlt die richtige Akkreditierung.

Im „Rückwärtsgang“ gelangt sie irgendwie in Honeckers Fahrstuhl. Sein Sicherheitsmann ist nicht eben erfreut. Doch Honecker ruft: „Lasst doch das Mädchen mitfahren!“ Mit diesem „Frauenbonus“ hat sie ihr Foto. „Ich habe es halt auf meine charmante Art gemacht.“ Durchsetzungskraft wird sie dennoch gehabt haben.

Aufgeregt war sie immer

Ihr Lachen ist erfrischend, als sie erzählt, wie sie beim heiklen Treffen Willy Brandts mit Leonid Breschnew 1973 in Bonn dabei war. Es geht um die Ostverträge. Anspannung im Raum. Sie ist 34 Jahre, keiner kennt sie dort, die Politiker, vier, fünf Fotografen, allein zwischen Männern im Kalten Krieg. Sie ist aufgeregt, das war sie bis zuletzt bei solchen Terminen. Als Breschnew sie sieht, winkt er: „Endlich mal eine Frau“. Ihr Glück.

Diese Nähe zum Geschehen prägt das Bild. Es geht um die Welt. Klemm scheint ganz nah dran an den Politikern. Die beugen sich nach vorne, geradezu konspirativ sieht das aus. Sie nehmen die junge Klemm gar nicht wahr. Damals, vor der digitalen Kamera, war es so, dass sie mit dem Film in der Tasche zurückfuhr nach Frankfurt am Main, und gar nicht wusste, ob das Motiv überhaupt geglückt war.

Schauspieler, Künstler, Literaten, Musiker, auch diese hat Klemm meisterhaft porträtiert. Da sind viele zusammen gekommen in den Jahren. Mick Jagger wild auf der Bühne, Tom Waits auf einer dunklen Treppe, der so aussieht, als würde er gleich abstürzen. Und: Claudio Abbado, Simon Rattle, György Ligeti, Andy Warhol, Rainer Werner Fassbinder, Helene Weigel, Heiner Müller. Gibt es überhaupt noch jemanden, den sie noch fotografieren möchte? Sie zuckt mit den Schultern.

Der Bildhauer Richard Serra war einmal ihr Traum. Der hängt nun zwischen Künstlern wie Neo Rauch oder Daniel Richter. Er steht einfach da, so, als gäbe es ein ganz, ganz leises Zwiegespräch zwischen Fotografin und ihrem Protagonisten.

Letztendlich aber ist genau das ihr künstlerisches Geheimnis. „Ich habe immer gefragt, ob ich nach Hause kommen darf. Dort haben Prominente eine andere Freiheit als im öffentlichen Raum.“ Eine Stunde, länger bleibt sie nicht. Dann reicht es, für beide Seiten, meint sie. Aber auch die Helden des banalen Alltags hat sie nicht vergessen, die muffelige Hausfrau in Kittelschürze oder die Männer beim Bier am Imbiss um die Ecke.

Blick für die Komposition

Irgendwo zwischen den Porträts sieht man ein Foto ihres Vaters Fritz Klemm, er war Maler, Professor an der Akademie in Karlsruhe. Da steht er, in Rückenansicht, guckt hinaus aus dem Fenster in karge, dünne Bäume voller Nebelgespinste.

In diesem Foto, könnte man meinen, ist vieles angelegt, was Klemm in ihrer Fotografie auszeichnet: Emphase, der doppelte Blick, das Wechselverhältnis von Innen und Außen und das feine Gespür für Stimmungen. Auch die Mutter malte, sagt sie. Mit Bildern ist sie aufgewachsen – das schärft sicher den Blick für Kompositionen.

Es gibt eine Serie, da ist sie ganz die Malerin. Einer ihrer letzten Aufträge war die Reise zu James Turell, dem Priester des Lichts. In der Wüste von Arizona hat er einen Vulkankrater in ein spektakuläres Lichtobservatorium verwandelt. Die Tageszeiten verändern das Kunstwerk. Klemm blieb über Nacht, es gab Vollmond („was für ein Glück“). Herausgekommen sind unglaublich magische Lichtzeichnungen.

Jetzt in ihrem „zweiten Leben“, 2004 hörte sie bei der Zeitung auf, hat sie ihre Kamera immer noch dabei. Doch das müssen die Leute gar nicht merken. Sie fotografiert, wenn sie halt Lust hat. Für eine Kunststiftung zieht sie durchs Land, um jene Orte aufzunehmen, die Goethe aquarellierte. Fichtelgebirge, Rom, Weimar. Weit weg also von den Krisen und Kriegsgebieten der Welt. „Diese Einsätze“, sagt sie, „die hätte ich nie gekonnt.“

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7. Mi-Mo 10-19 Uhr. Di geschlossen. Bis 9. März 2013. Katalog: 48 Euro