Das Licht bleibt an. Als Peter Gabriel am Sonnabend unter lautstarkem Applaus auf die Bühne der mit mehr als 13.000 Besuchern ausverkauften O2 World tritt, kommt man sich vor wie in einer überdimensionierten Schul-Aula. Er wolle zeigen, wie das alles entsteht, was er so mache, sagt er. Wie seine Lieder langsam und langwierig Form annehmen. So beginnt der 63-Jährige sein Berlin-Konzert am Klavier mit einem neuen Stück, einem unfertigen, das noch keinen richtigen Text hat, sondern nur aneinander gereihte Worte, begleitet von Bassist Tony Levin. Arbeitstitel: „O But“. Das Saallicht ist immer noch an.
Da ist er also, der Mann, der mit seiner Band Genesis einst den Prog-Rock geprägt hat, der später die Video-Ästhetik revolutionierte, der in seinen Real-World-Studios den Weltmusik-Boom losgetreten hat. Und singt mit dieser romantisch flehenden, leicht angerauten und immer noch so bewegenden Stimme ein Kauderwelsch, das dennoch wirkt wie ein ernst gemeinter Songtext. Peter Gabriel als Musiklehrer, wie man ihn sich früher im Unterricht immer gewünscht hätte. Er nimmt sie ernst, seine Schüler. Und so macht er wie gewohnt seine Ansagen auf Deutsch. Mit Spickzettel, aber immerhin.
Zuletzt konnte man Gabriel, den charmanten Grübler von der Insel, mit einem ambitionierten Projekt in Berlin erleben, bei dem er seine Songs und Lieder von Musikern, die er schätzt, mit großem Symphonieorchester interpretierte. Ohne E-Gitarren, ohne Schlagzeug. Nun, mit seinem Programm „Back To Front“, kehrt er zurück zur klassischen Rockbesetzung und spielt seine Hits so, wie man sie in den vergangenen 30 Jahren kennen und lieben gelernt hat. Kern des Programms ist sein Erfolgsalbum „So“ von 1986, das er im dritten Teil des Abends komplett Song für Song aufführen wird. Als Dessert sozusagen.
Ablauf des Abends genauestens erläutert
Doch noch herrscht Werkstattatmosphäre in der erleuchteten Mehrzweckarena. Gabriel hat den Ablauf des Abends genauestens erläutert. Dem akustischen ersten Teil werde ein Hauptgang mit Stationen seiner Solo-Karriere in voller Rockbesetzung folgen und als Höhepunkt erklinge „So“, nahezu genau in der Reihenfolge, in der die Musik einst in Vinyl gepresst wurde. Nahezu, denn gespielt wird die Version der remasterten CD-Veröffentlichung von 2002, auf der „In Your Eyes“ ans Ende gesetzt wurde und mit „This Is the Picture (Excellent Birds)“ ein neues Stück dazu kam.
Es ist immer noch hell, als Gabriel vor „Come Talk To Me“ vom 92-er-Album „Us“ die Band auf die Bühne holt und die Musiker einzeln vorstellt. Es sind alles Musiker, die mit Gabriel das „So“-Album eingespielt haben. Neben Bassist Tony Levin, der Gabriel seit den 80er-Jahren zur Seite steht, sind das Schlagzeuger Manu Katché, Keyboarder David Sancious von Springsteens E-Street-Band und Gitarrist David Rhodes. Komplettiert wird die Live-Mannschaft von den beiden skandinavischen Sängerinnen Jennie Abrahamson und Linnea Olsson.
Musiker überlebensgroß im Bühnenhintergrund
Akkordeon, Akustik-Gitarren, Klavier, Trommeln: Manch einer im Publikum wirkt ein wenig irritiert von der spartanischen Aufführung. Ist das noch der Soundcheck oder schon das Konzert? „Shock the Monkey“, der Hit aus dem Jahr 1982 nimmt in der abgespeckten Form Tempo auf und mitten in „Family Snapshop“, jenem schmerzvollen Song über einen jugendlichen Attentäter, bekommt der Sound Druck, das Saallicht verlöscht, die Bühne wird in mysteriös nervöses Licht getaucht. Und die Musik wird zur Show.
Roboterhafte Scheinwerferkräne, seit jeher ein Markenzeichen von Gabriel-Konzerten, werden von Bühnenarbeitern über die Bühne gerollt, heben und senken sich, richten sich auf bei „Digging In The Dirt“, mit dem Teil zwei des Abends, eine Art Best-of-außer-„So“, beginnt. Die Musiker erscheinen überlebensgroß in vertikalen Projektionen im Bühnenhintergrund, es erklingt eine Mixtur aus treibenden Rockgebilden und kitschfreier Balladenseligkeit, mit „Secret World“, „No Self Control“ und natürlich „Solsbury Hill“, Gabriels erstem Hit von 1977, in dem er volksliedhaft die Trennung von Genesis verarbeitet hatte.
Weltmusik und alte Bekannte
Weil Gabriel schon zu Beginn verraten hat, wie der Abend verlaufen wird, ist dieses Konzert entsprechend überraschungsfrei und so vorhersehbar wie eine Musicalinszenierung der Titanic-Atlantiküberquerung. Mit „Red Rain“ beginnt Teil drei, mit jener düsteren Ballade von Leben, Sterben und mörderischem sauren Regen, begleitet von glutroten Feuerfontänen, die unerbittlich über die Leinwand stürzen. Und er endet mit „In Your Eyes“, einer versöhnlichen Weltmusik-Ballade, die Gabriel auf Platte gemeinsam mit Youssou N’Dour gesungen hatte. Hier hat Jennie Abrahamson noch einmal einen großen Auftritt.
Und dazwischen: all die alten Bekannten. Wie „Sledgehammer“, Gabriels stampfende Hommage an den Soul, an die schwarze Musik, bei der die O2 World zur Großraumdisco mutiert. Es war Peter Gabriels größter Hit. Die Bläsersätze, die nun aus dem Computer kommen, wurden auf Platte von den legendären Memphis Horns gespielt. Das Musikvideo dazu nutzte Knetmasse-Animationen in Stop-Motion-Technik, ist wie der Song voller sexueller Anspielungen und wurde mehrfach preisgekrönt. Selbst heute wirkt das Stück kein bisschen angestaubt, hat Frische, Energie, Leidenschaft. Die Band spielt furios.
Melancholisch, düster, mitunter bedrohlich ist die Stimmung der Songs, die aber immer wieder durch Momente der Hoffnung aufgebrochen wird. „Don’t Give Up“, die hemmungslos positive Durchhalte-Ballade, die Kate Bush einst gesungen hat, erklingt nun im Duett mit Jennie Abahamson. Bei „Mercy Street“, das auf einem Gedicht der amerikanischen Schmerzenspoetin Ann Sexton basiert, liegt Gabriel singend auf dem Boden und wird von den Roboterkränen unheimlich bedrängt und ausgeleuchtet. „Big Time“ wiederum kommt mit seinen perkussiven Basslinien gewohnt wuchtig daher und bringt wieder Bewegung in die Halle.
Zweite Zugabe "Biko“ hallt lange nach
Peter Gabriel, kahlköpfig, etwas rundlich geworden und von überwältigendem Charme gezeichnet, gibt sich als altersgerechter, kluger, intelligenter Entertainer, der ruhelos über die Bühne schreitet, ja mitunter sogar tänzelt und stets zwischen dem Piano am rechten Bühnenrand, seinem Keyboard auf der linken Seite oder dem Mikrofon an vorderster Front wechselt. Er führt sein Werk vor, ein Lebenswerk, auf das er stolz sein kann, ein Geschenk an die Pop-Welt, das vom Publikum dankbar und mit großem Jubel angenommen wird.
Ganz zuletzt, als zweite Zugabe, spielt er in glühend rotem Licht "Biko“ von 1980, den Protestsong über den im Gefängnis gestorbenen südafrikanischen Anti-Apartheid-Aktivisten Steve Biko. Nach Ende der Apartheid hatte er das Stück lange Zeit nicht mehr im Programm. Nun widmet er es mit erhobener Faust all jenen jungen, mutigen Menschen, die sich auf der Welt gegen Unrecht und Unterdrückung auflehnen. Und das Publikum skandiert den Refrain lauthals mit. Es singt ihn noch, als die Musiker die Bühne längst verlassen haben.
Eine große Show, ausgefeilt in Licht, Ton und Dramaturgie, das Gesamtkunstwerk einer Karriere sozusagen. Peter Gabriel ist einer, der sich stets Zeit lässt mit dem, was er tut. Und wer weiß, vielleicht wird aus dem unfertigen Eröffnungsstück „O But“ irgendwann auch mal ein richtiger Song.