Meret Oppenheim

Als die Surrealisten einer nackten Schönen verfielen

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Tim Ackermann

Meret Oppenheim hat in ihrer Zeit einen höchst ungewöhnliche Künstlerinnen-Karriere gemacht. Zu ihrem 100. Geburtstag zeigt der Berliner Martin-Gropius-Bau eine umfassende Retrospektive.

Die nackte Schöne steht vor einem Massivholzschrank. Daneben hat sich ein Künstler postiert und wischt ihr mit einem Tuch über die Alabasterfinger. Man kann sich bei dem Anblick an Jean-Léon Gérômes berühmtes Gemälde „Pygmalion und Galatea“ erinnert fühlen, das den Mythos der Fleisch gewordenen Statue nacherzählt.

So wie Gérômes Gemälde ist auch das Foto des amerikanischen Fotografen Man Ray aus dem Jahre 1933 eine Fantasie. Zu sehen ist die klischeehafte männliche Wunschvorstellung, wie eine Frau idealerweise zu sein habe: jung, attraktiv und vollkommen passiv. Allerdings handelt es sich bei der nackten Schönen in Rays Fotografie um die Künstlerin Meret Oppenheim. Und die war in Wahrheit alles andere, nur nicht passiv. Bereits ein Jahr zuvor hatte sie Paris erobert.

Innerer Zirkel der französischen Surrealisten

Auf der Zugfahrt wurde der Pernod zum Mutmacher der Wahl, und, einmal in der französischen Hauptstadt angekommen, spazierte die 18 Jahre alte Oberschülerin aus Lörrach umgehend ins „Café du Dôme“ – den „Hexenkeller für die ganze Kunstwelt“, wie eine mitreisende Freundin nach Hause schrieb. Dort muss Meret Oppenheim mächtig Eindruck gemacht haben.

Schnell geriet sie an die Künstler Alberto Giacometti und Hans Arp, die sie wiederum mit ihren Kollegen bekannt machten, mit André Breton, Max Ernst oder eben Man Ray. 1933 gehört sie dann zum Inneren Zirkel der französischen Surrealisten. Was folgte, ist eine für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einzigartige Künstlerinnenkarriere.

Verschlungene Erzählung aus Werk und Biografie

Wenn nun der Martin-Gropius-Bau in Kreuzberg Oppenheim zum 100. Geburtstag eine große Retrospektive ausrichtet, dann entfaltet sich vor den Augen des Betrachters eine verschlungene Erzählung aus Werk und Biografie, deren Kapitel so ungewöhnlich wie zum Teil noch nicht vollständig aufgearbeitet sind.

In der Berliner Ausstellung ist ein weiteres, bekannteres Foto von Man Ray aus der Serie „Érotique voilée“ zu sehen, dass die nackte Oppenheim neben dem Schwungrad einer Druckpresse zeigt. André Breton druckte das Bild 1934 in der Surrealisten-Zeitschrift „Minotaure“. Die Verbindung aus weiblichem Körper und Maschinenästhetik sorgte in Paris für einen Skandal.

Bild mit der Schere zensiert

Dabei hatte Breton das Bild zuvor sogar noch mit der Schere zensiert und den Handgriff des Rades, der in Rays Originalabzug phallisch und androgyn vom Künstlerinnenleib in den Vordergrund ragt, verschwinden lassen. Man ahnt, wenn man das Ursprungsbild sieht: Oppenheim dürfte ihren Kollegen nicht immer geheuer gewesen sein.

Die junge Frau, die von ihren Freunden „Meretli“ genannt wurde, war jedenfalls nicht gewillt, sich mit der Rolle eines braven Künstlerinnenmäuschens oder rundäugigen Surrealisten-Groupies zufrieden zu geben. Macho-Attitüden konterte sie mit Kreativität: Es ist überliefert, dass Pablo Picasso 1936 bei einem Besuch im Café de Flore angesichts eines von Oppenheim selbst gefertigten Armreifs mit Pelzbesatz zu sticheln begann: Man könne wohl alles mit Pelz überziehen.

Oppenheim konterte Picassos Sticheleien

Genau, entgegnete Oppenheim, diese Tasse vor ihnen auf dem Tisch zum Beispiel. Anschließend verkleidete sie tatsächlich eine Tasse nebst zugehöriger Untertasse und Löffel mit Pelz. „Déjeuner en fourrure (Frühstück im Pelz)“ ist bis heute die berühmteste und wichtigste surrealistische Plastik. Das traumhafte Gedeck wurde sofort vom New Yorker Museum in New York angekauft, seine Schöpferin auf einen Schlag berühmt.

Die Berliner Ausstellung würdigt diese Episode gleich zweifach: Der alles auslösende Armreif ist im Original zu sehen, die Pelztasse dagegen in einer Reproduktion, als rosagefärbter Offsetdruck aus den Siebzigerjahren, der allerdings im Stil an Andy-Warhol-Siebdrucke erinnert und so den Status des Motivs als Kunstgeschichtsikone nur untermauert.

Max Ernst verkraftet Trennung nicht

Dem schnellen Ruhm folgten die Neider: Allen voran Max Ernst, der ab dem Spätherbst 1933 ihr Liebhaber gewesen war und von dem sie sich kein Jahr später abrupt trennte, aus dem Instinkt heraus, ihre junge künstlerische Karriere nicht durch das Verhältnis mit einem bekannten Kollegen zu gefährden. Ernst war erschüttert – und rächte sich, indem er für die Einladungskarte zu Oppenheims erster Einzelausstellung 1936 in Basel ein paar überhebliche Worte schrieb: „Wer überzieht die Suppenlöffel mit kostbarem Pelzwerk? Das Meretlein. Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein.“

Zu den bemerkenswerteren Anekdoten der Beziehung gehörte, dass Oppenheim ein Gemälde, das sie Ernst gewidmet und geschenkt hatte, später auf dem Flohmarkt entdeckte und zurückkaufte. „Husch, Husch, der schönste Vokal entleert sich“ ist nun inklusive des entsprechenden schriftlichen Zusatzes („M.E. Par M.O.“) in der Ausstellung zu bewundern. Die Surrealisten-Amour-Fou, sie würde heute die Klatschspalten füllen.

Briefe von Duchamps erhalten

Dabei hatte Oppenheim bereits Anfang 1935 einen anderen kennen gelernt, der viel wichtiger für sie werden sollte: Marcel Duchamp, den Erfinder der Konzeptkunst. Ein erst vor kurzem bekannt gewordener Briefverkehr enthüllt die innige Beziehung der beiden, die wohl eine Liebesbeziehung war und bis 1942 andauerte.

Es sind allerdings nur die Briefe Duchamps erhalten, die in ihrer Effizienz dem nüchtern-ironischen Charakter der Künstlers weitgehend entsprechen: „Samstag. Komm gegen sechs Uhr Sonntag zu mir. Wir essen zusammen und gegen zehn verlasse ich dich wieder. Liebevoll, Marcel.“

Man kann, man muss angesichts dieser Enthüllungen das Werk Oppenheims nun erstmals nicht allein im Hinblick auf den Surrealismus interpretieren, sondern vor allem auch als Reaktion auf Duchamp verstehen.

Pissoirs als Kunstwerke

Das legt die Berliner Ausstellung unbedingt nahe. Schon die Pelztasse ist ein Beispiel. Duchamp wurde damit berühmt, dass er ganz gewöhnliche Gegenstände wie Pissoirs oder Flaschentrockner allein durch seine Auswahl als Ausstellungsobjekte in den Rang von Kunstwerken erhob. Oppenheim zeigte im Umkehrschluss, dass man auch nach Duchamp weiterhin ganz gewöhnliche Gegenstände wie eine Tasse künstlerisch verfremden konnte – und trotzdem sind sie nicht weniger ausdrucksstarke Kunst.

Oppenheims geistige Nähe zu Duchamp wird in vielen Stellen in der Ausstellung deutlich, zum Beispiel, wenn in künstlerisch bearbeiteten Objekten wie Handschuhen oder Halsketten mehr oder wenig deutlich erotische Referenzen durchschimmern.

Dame mit Schnurrbart

Und ihr Gemälde „Das Auge der Mona Lisa“ weckt Erinnerungen an Duchamps Werk von 1919, in der er der berühmtesten Dame der Kunstgeschichte einen Schnurrbart verpasste. Oppenheimer malte ihr Bild allerdings erst 1967, und da waren andere schon weiter: Der Pop-Künstler Andy Warhol hatte vier Jahre zuvor die Mona Lisa in Serienproduktion geschickt und dabei selbstbewusst verkündet: „30 sind besser als eine.“

Überhaupt: Das weitere Werk von Meret Oppenheim ist gekennzeichnet durch Höhen und Tiefen, und unterwirft sich auch heute noch keinem abschließenden Qualitätsurteil. Gemälde wie „Peperoni auf dem Wasser“ (1938) waren für den Surrealismus nicht unbedingt zielführend, genauso wie die im Rudel auftretenden Naturgeister und „Steinfrauen“.

Oppenheim verschrieb sich nie dem Feminismus

Besser wurde es, als Oppenheim Mitte der Sechziger wieder in eine etwas aufmüpfigere, politischere Phase kam: Die Sägen-Assemblage „Oktavia“ mit Cunnilingus-Anspielung von 1969 ist genauso hervorragend, wie das im selben Jahr entstandene „Eichhörnchen“ – ein männlich stämmiger Bierglashumpen mit einem schönen flauschigen Pelzschwanz als Henkel. Der feministischen Bewegung wollte sich die Künstlerin dennoch nie öffentlich verschreiben.

1963 hatte sich Duchamp in Los Angeles mit einer jungen Künstlerin namens Eve Babitz beim Schachspiel fotografieren lassen. Kurioserweise trägt Babitz auf dem Foto keine Kleider. In der Berliner Ausstellung ist nun ein Werk zu sehen, dass Oppenheim drei Jahre nach dem Foto schuf und das den Titel „Bon Appetit, Marcel! (Die Weiße Königin)“ trägt: Auf einem Schachbrett steht ein Teller und darauf liegt eine aus Teig geknetete Schachfigur, die Bestecke zum Verzehr liegen direkt daneben.

Im Körper der Weißen Königin klafft ein langer Schlitz mit einer Reihe kleiner Knochen darin. Manche Interpreten erinnert der Anblick an eine Vagina mit Zähnen, andere denken eher an die Wirbelsäule eines Rebhuhns, die – in den falschen Hals geraten – vergleichbar desaströse Folgen hätte. So oder so: Man darf vermuten, dass Duchamp an diesem Werk zu schlucken hatte.