Was macht man, wenn die Plattenfirmen keine Soundtracks mehr verlegen wollen? Man gründet sein eigenes Label – und bringt dort die Musik einer Berliner Band heraus. So wie Wim Wenders. Eine Begegnung.

Diese dick aufgetragenen E-Gitarren, dieses hetzende Schlagzeug, dieser atemlose Gesang. Wir hören eine rauchige Platte, die auf ratternden Schienen in unser Bewusstsein vordringt, so wie einst die Siedler Amerikas die Grenze immer weiter nach Westen brachten.

Die Berliner Band „Infamis“ veröffentlicht ihre fünfzehnte Platte, und doch ist es in gewisser Weise ein Debüt. Wim Wenders hat sie 2008 für sich entdeckt. Dafür musste er erst nach San Francisco reisen.

Auf seinem Plattenlabel Wenders Music veröffentlicht der Filmemacher nun im Juli „Im Westen der Himmel“.

Sie wären tolle Patenonkel

So gar nicht laut, so gar nicht ratternd sitzen Wim Wenders und René Schwettge beim Italiener in Charlottenburg. Immerhin, Schwettge raucht Selbstgedrehte, trägt Hut und einen famosen braunen Anzug, so einen, den einer im Schrank hat, wenn er es liebt, Anzüge zu tragen, die etwas zu erzählen haben. Rechts neben Schwettge, Sänger und Songschreiber der Band, freut sich Wenders gerade über den mit einem Ritsch-Ratsch in seine Minestrone rieselnden Pfeffer.

Das machen die Italiener ja so. Sie bringen die Minestrone und dann, eine halbe Minute später, kommt einer und fragt, die große Peugeot-Mühle präsentierend: „Frischer Pfeffer?“ Mit Parmesan machen sie das jetzt auch so. Keineswegs soll dies nun respektlos verniedlichend gemeint sein, aber irgendwie will man die beiden ganz lange für sich haben – den Dirty-Harry-Musiker-René und den Filmzauberer-von-Oz-Wim, der durch seine blaue Brille schaut, die Füße von blauen Turnschuhen gefedert. Tolle Patenonkel wären das.

Schwettges Band wird 1987 in Ostberlin gegründet. Der Musiker ist gerade 17, in Friedrichshain geboren. Und wie Schwettge das erzählt, in ganz wenigen Worten, schaut Wenders auf das Aufnahmegerät des Reporters, wischt über das Display, um sich zu vergewissern, dass es auch mitschneidet. „Man weiß ja nie“, sagt er dabei.

Als Skinheads das Konzert überfielen

Im selben Jahr spielen Element of Crime ihr Konzert in der Zionskirche. „Da war ich natürlich auch“, erinnert sich jetzt Schwettge, „aber ich bin wegen der Firma hingegangen“. Die Firma war eine Ostberliner Punkband. „Hab die Fresse vollgekriegt, so wie das damals eben üblich war.“ Rechte Skins überfallen das Konzert. Die Vopos schauen aus der Distanz zu. Der Musiker interessiert sich für Punk, Die Neubauten, Nick Cave & The Bad Seeds, The Wedding Present. Über den SFB überwindet der Soundtrack des Aufbruchs sogar die Mauer.

Und während Schwettge und seine Kollegen auf Englisch die ersten Songs schreiben, dunkel, mit tiefer Stimme, anders konnte man damals eigentlich auch nicht singen, stellt Wenders „Der Himmel über Berlin“ fertig. „Zwei Bands müssen drin vorkommen, die Bad Seeds und Crime & The City Solution“. Vom Musikgeschmack geht die neue Partnerschaft also mehr als klar.

Die Wende kommt, Jahre ziehen ins Land. Wenders macht weiter Filme, Schwettge weiter Platten. Wenders wird der größte deutsche Filmemacher, Schwettge und sein Quintett bleiben Musiker im Untergrund. Vielleicht kann Wenders sie nach oben holen.

Für eine Retrospektive reist er in die USA. Zehn Städte. Es ist 2008. Der Filmemacher gibt ein Interview in San Francisco. Radio Goethe, ein deutsche Sendung. Der Moderator Arndt Peltner redet also mit Wenders über Musik und nach dem Interview gibt er ihm eine Infamis-Platte. „Die wird Ihnen gefallen“, sagt Peltner. Und sie gefällt. Zuhause in Berlin, einige Zeit wird noch vergehen bis dahin, hört Wim Wenders den Sound von Infamis. Inzwischen singen sie deutsch.

„Die Platte war immer im Koffer zwischen den beiden Hälften.“ Wenders Haare bewegen sich im seichten Wind des Nachmittags, mit den großen schlanken Händen, ein goldener Ring blitzt auf, formt er die Kofferhälften, dazwischen die unsichtbare CD. „Das war eine Wissenschaft, den Koffer so zu packen, dass die Platte nicht verbiegt.“

Melodien der Stadtwüste

Wie gut wir uns vorstellen können, dass Wenders Infamis gefällt. So gut, dass er sämtliche Platten von Infamis kauft. Alles. Hundertzwanzig Euro für Twang-Gitarren, einen Prärie-Sound. Einen Berliner-Prärie-Sound. Keine Cowboy-und-Indianer-Wüste, aber eine Stadtwüste, die Berliner Stadtwüste. Finstere Gestalten, im Hintergrund das Fieber der Nächte. „Das Fieber ist ein hervorragender Zustand, um Musik zu machen. Es übertüncht so manches. Die Unsicherheit. Inzwischen fühlen wir uns nicht mehr so unsicher.“ Schwettge rollt die nächste Zigarette. „Coole Hunde sind die“, meint Wenders.

Störgeräusche, Bass-Umpta, immer weiter, bis man nicht mehr kann. „Harmlos zieht meine Zeit dahin, wie ein weiter, langer Tag / und das Land ist so flach und so unendlich grau an den Orten, die es früher mal gab“, singt Schwettge auf der neuen Platte. Sie klingen so nach Berlin, nach dem Smog über der alten Stadt, nach dem Bier, das noch nach Bier schmeckte.

„Wir schaffen das schon. Ich bin da stoisch“

2011 veröffentlicht Wenders den Film Pina. Die Plattenlabel lehnen ab. Soundtracks funktionieren nicht mehr. Wenders gründet Wenders Music. Der Pina-Soundtrack verkauft sich 40.000 mal. „Jetzt kann es nur noch bergab gehen“, ein Augenzwinkern sagt, dass Wenders es nicht so meint. „Wir schaffen das schon. Ich bin da stoisch“, kommt die Antwort.

Infamis werden im Oktober auf Kino-Tour gehen. Hamburg, Berlin, Essen, Main, Zürch. „In den Westen. In das Goldgräberland“, raunt Wenders. Inzwischen liegen zwei Fisch-Filets vor ihm. „Im Kino kann man sehr gut knutschen, oder, Herr Wenders?“ – „Es hat mal mehr Spaß gemacht, als das Rattern der Projektoren dazu kam.“ Wenders muss lachen, als er seinen Satz vollendet, und sein Freund Schwettge auch. Ihre Kinotour führt sie nur durch Programm-Kinos. Das ist eine gute Idee. Klein, romantisch, natürlich mit dem Rattern. Dem Rattern der Projektoren, des Schlagzeugs, der Stimme und den Bildern, die uns Infamis auf den Weg mitgeben. „Im Kino gewesen / geweint“, beginnt ihre neue Platte.