Berlin. Calixto Bieito inszeniert Verdis „Aida“ an der Staatsoper. Seine Lesart geht schief, Verdis Meisterwerk zerstören kann er aber nicht.

Es wird immer schwieriger, Opern wie „Nabucco“, „Samson und Dalila“ oder „Salome“ auf die Bühne zu bringen. Die Gefahr, ungewollt das kolonialistische Weltbild des 19. Jahrhunderts zu justifizieren, indem man sich einer orientalisierenden Bildersprache bedient, ist zweifellos groß. Größer aber noch ist die Gefahr, durch alternative Lesarten neue und keineswegs sympathischere Herrschaftsideologien zu lancieren. Das ist jetzt an der Lindenoper passiert. Sicherheitshalber wurde für „Aida“ der Regisseur Calixto Bieito verpflichtet – aber die Sache ging trotzdem schief, und das gründlich.

Bieito konnte Verdis Meisterwerk glücklicherweise nicht völlig zerstören. Die Kunstform „Oper“ behauptete sich gegen den Versuch, sie mittels Pädagogik und Demagogie in einen gesellschaftspolitischen Diskurs zu verwandeln. Konkret: die Sänger triumphierten, die Leidenschaften und die unlösbaren moralischen Konflikte machten sich, wenigstens streckenweise, auf bezwingende Art geltend, ließen einen gebannt dieser außergewöhnlichen Musikerzählung folgen. Ja, nur streckenweise, nur in zwei Momenten, aber das genügte, dieser „Aida“ den Nimbus des Unvergesslichen zu verleihen.

Zur Erinnerung: der ägyptische Feldherr Radamès hat den äthiopischen Aggressor besiegt, dessen König Amonasro wird nun vom Pharao, im Libretto nur König genannt, gefangenhalten. Amonasros Tochter Aida ist schon längere Zeit als Geisel in Memphis; sie liebt Radamès, aber das tut die ägyptische Königstochter Amneris ebenfalls. Eine von hundert Opern durchgespielte Personenkonstellation, die hier jedoch an Schärfe gewinnt, weil Aida ihren Vater und ihr Vaterland verraten muss, um Radamès zu gewinnen – oder umgekehrt. Die beiden Hauptpersonen sind Aida und Radamès. Nicht jedoch an der Lindenoper; hier stehen Amneris und Amonasro im Zentrum. Womit wir bei den zwei unvergesslichen Momenten dieser Inszenierung angelangt sind.

Elina Garanča ist die dramatische Mezzosopranistin unserer Tage

Das größte Ereignis trägt den Namen Elina Garanča. Sie zur Amneris schlechthin zu erklären, wäre vermessen, immerhin ist die mit über 260 Tonaufzeichnungen zu Buche schlagende Konkurrenz recht gewaltig… Aber in ihr die herausragende dramatische Mezzosopranistin unserer Tage zu sehen, dürfte nicht zuletzt nach ihrem diesjährigen Bayreuth-Debüt kein Risiko sein. Garančas Stimme, vom filigranen Pianissimo bis zur passioniertesten Power reichend, verliert nie an Intensität oder Wärme und verbindet sich mit einem schauspielerischen Ausnahmetalent. Bei ihr ist Amneris eine Figur der schicksalhaften, tragischen Wandlungen. Zunächst eine mondäne, blasierte Hofdame, dann die heuchlerische Freundin und niederträchtige Gegenspielerin der Aida, schließlich das Opfer ihrer eigenen Intrige, am Wahnwitz der unerwiderten Liebe zu Ramadès verzweifelnd. Diese Art der Rolleninterpretation ist Standard; die lettische Sängerin macht daraus ein unvergessliches Ereignis.

Grigory Shkarupa ist der waffenwütige König von Ägypten in der Neuinszenierung von Verdis Oper.
Grigory Shkarupa ist der waffenwütige König von Ägypten in der Neuinszenierung von Verdis Oper. © HERWIG PRAMMER

Und das zweite Wunder dieses Abends? Amonarso, gesungen von Gabriele Viviani. Eigentlich keine sehr große Rolle, aber wie der italienische Bariton in der Nil-Szene auftrumpft, wie er das Geschehen mit eleganter Stimmgewalt an sich reißt, wie er Aida zum Verrat an Radamés zwingt, wie er sie mit der äthiopischen Fahne umgarnt und dann fesselt – das alles strahlt eine selten zu erlebende, monumentale Autorität aus. Auf nicht ganz vergleichbarer Kunsthöhe rangiert die von Nicola Luisotti geleitete, mit ätherischen Instrumentalfarben, aber auch einem mitunter zu pastosen Gesamtklang aufwartende Staatskapelle. Der Staatsopernchor hatte nicht seinen besten Tag, René Pape hingegen erinnerte als Oberpriester Ramphis an seine besten Zeiten.

Marina Rebeka brauchte ein paar Takte, um sich einzusingen, fremdelte aber dann weiterhin mit der Aida. Ihre Intonation schien eine Spur zu stählern, was eventuell mit ihrem starren Agieren zu tun hatte. Die Lettin und der aserbaidschanische Tenor Yusif Eyvazov, der durch monotone Überlautstärke auffallende Radamès, bildeten nicht gerade ein Traumpaar. Angesichts aktueller Katastrophen von Mali bis Kiew und Berg-Karabach wirkte diese „Aida“-Inszenierung wie aus der Zeit gefallen; ein Fall von selektivem Antikolonialismus.

Diese „Aida“ der Staatsoper ist ein Projekt westlicher Aneignung

Eingeblendete Filmszenen – die berufstypische Kapitulation eines Regisseurs vor seiner Aufgabe – zeigen Forschungsreisende bei der afrikanischen Löwenjagd, deutsche und alliierte Jagdbomber im 2. Weltkrieg, sinkende Containerschiffe und, besonders verstörend, Hausfrauen in Supermärkten, also Konsumterror als natürlich Folge unserer Wirtschaftsordnung. Für ganz Blöde wird dann noch die Zeile „Lets make Lots of money“ eingeblendet.

Der wohlfeile Ansatz ist offenbar inspiriert von den Schriften Edward Saids, in denen der europäische Orientalismus als kaschiertes Hegemoniestreben und der Staat Israel als kolonialistisches Projekt des Westens gedeutet werden. Die Thesen stehen auf sehr wackligen wissenschaftlichen Füßen. Entsprechend wacklig fällt auch Bieitos Regiearbeit aus, bis in die Personenführung hinein erschreckend unsinnig. Warum besingt Radamès in seiner berühmten Auftrittsarie „Celeste Aida“ nicht die Geliebte, sondern die Pistole, mit der er ständig herumfuchtelt? Warum erschießt er während des dramatischen Liebeduetts mit Aida im 3. Akt mal eben ein paar von ihren gefangenen Landsleuten? Warum trägt der flüchtige Amonasro einen schwarzen Anzug, als käme er soeben von der Premierenfeier? Warum erstrahlt die Bühne meist in einem klinischen Weiß, selbst in der nächtlichen Szene am Nil? Weil alle Bilder dieser Inszenierung europäische Bilder sind. Die „Aida“ der Staatsoper ist ein Projekt westlicher Aneignung.

Staatsoper Unter den Linden, Mitte. Tel. 20354555 Termine: 6., 9., 12., 15., 19., 22. und 29.10.