Regisseurin Claudia Bossard übersetzt den hyperaktiven Text von Rainald Goetz in kluges Gegenwartstheater.

„Alle Gewalt geht von der Familie aus.“ Und Rainald Goetz, der diesen Satz zentral in sein neues, jetzt am Deutschen Theater uraufgeführtes Stück „Baracke“ eingeschrieben hat, meint damit nicht etwa irgendeine spezielle Familie, sondern Familie als Konstrukt, als Schlachtfeld, als allgemeine Keimzelle von einem Hass, der Spuren nicht nur bei Vater, Mutter, Kind hinterlässt, sondern Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik, Nationen und Generationen hat. Kleiner geht es bei einem wie Büchner-Preisträger Rainald Goetz nun mal nicht, aber immerhin gibt’s zunächst auch Schönes zu vermelden, denn bevor eine Familie gegründet wird, findet im besten Fall ja noch so etwas wie Liebe statt. Oder zumindest das, was man dafür hält.

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Und also startet der Uraufführungs-Abend unter der Regie von Claudia Bossard so: Wir werden Zeugen einer rauschenden Berliner Partynacht, Tanz, Techno, ein Mann, eine Frau – oder, wie es bei Goetz im Stakkato heißt: „Blicke/Augen/Blitze/Lust“. Da ist sie, die „du-ich-Attraktion“ und wenig später spricht sie bereits von der „Erkenntnis/dass es das ist/das berühmte Gefühl/des Hin-gezogen-Seins“. Mareike Beykirch, neu im Ensemble des Deutschen Theaters, spricht dieses Wort silbenweise aus, als könne ihre Figur noch gar nicht fassen, dass es zu ihr passen könnte. Der Mann ihrer Wahl ist Ramin, gespielt von Jeremy Mockridge. Schnell reden Bea und Ramin über diese Paar-Dinge, welche Waschmaschine, welcher Trockner, das Lieblingsessen, das seine Mutti immer für ihn kochte. Er glaubt, dass sie glücklich werden könnten, er glaubt, dass sie anders sind als die anderen. Sind sie dann aber doch nicht, wie sich sehr bald herausstellen wird.

Handgreiflichkeiten: Jeremy Mockridge und Mareike Beykirch.
Handgreiflichkeiten: Jeremy Mockridge und Mareike Beykirch. © Thomas AuriN

Und dann wird der Bogen größer, verlässt das Private: Bea tauscht Ramin gegen Uwe (Janek Maudrich) aus, den sie noch aus ihrer alten, mittlerweile politisch radikalisierten Clique in Thüringen kennt. Uwe, Bea, Thüringen und dann noch ein Banküberfall und ein brennendes Wohnmobil in Eisenach: Rainald Goetz bringt den Terror des mordenden NSU-Trios ins Spiel. Und damit nicht genug. Weitere Figuren tauchen auf, eine seltsame Schamanistin (Evamaria Salcher) mit apokalyptischen und nicht gerade optimistischen Prophezeiungen durchschreitet die Szenerie, die zu weiten Teilen in einem von Elisabeth Weiß auf die Drehbühne gestellten Museumssaal spielt.

Da hängen Bilder, alte und neue, zum Beispiel von Alex Katz und gerahmt an der Wand hinter Glas als kleine Ehrerbietung auch eine kleine rote Ausgabe von „Abfall für alle“, dem buchgewordenen Internet-Tagebuch von Rainald Goetz. Es gibt Bildschirme, die manchmal das Bühnengeschehen wiedergeben, manchmal aber auch historische Schlüsselmomente, gute wie schlechte. Hinten ist eine Treppe verbaut, die zu einer Tür ins Nirgendwo führt und einen verschiebbaren großen Glaskasten gibt es auch auf der Bühne. Der wird abwechselnd von verschiedenen Personen bevölkert, unter anderem auch von einem seltsam aus der Zeit gefallenen Paar (Natali Seelig und Andri Schenardi), das dort zunächst ein bisschen wie zur Schau gestellt wirkt in den historischen, biedermeierlichen Kleidern. Aber schnell wird klar: Die Fassade der wohltemperierten Bürgerlichkeit kann über den auch dieser Beziehung innewohnenden Hass, dieser Mischung aus Erniedrigung, Ergebenheit und männlichem Machtgebaren, nicht hinwegtäuschen.

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Die Gewalt, der Hass, das Schweigen, das Schreien, das Gift, die Gleichgültigkeit, kurz das Grauen im System namens Familie und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft legt Rainald Goetz in seinem Text sehr breit an, bietet für diese starren Verhaltensmuster reichlich Assoziationsfährten an und zeichnet die destruktive Wucht der familiären Verrohung über Zeiten und Situationen hinweg als allgemeines Muster, aus dem es seit Generationen kein Entrinnen gibt. Auch sprachlich ist dieser Text eine echte Herausforderung, es wechseln lyrische Passagen mit dialogischen und essayistische analytische Blöcke mit stroboskopischen Mini-Sequenzen, einmal wird ein REWE-Kassenbon verlesen. Und selbstredend werden die angedeuteten inhaltlichen Geschichten nicht linear erzählt. Das ist beim Lesen des Textes wahnsinnig anstrengend und verwirrend.

Aber man sieht staunend, dass es Regisseurin Claudia Bossard mit ihrem Ensemble tatsächlich gelingt, dieses mäandernde Tableau aus Figuren, Sprache und Motiven ziemlich theatertauglich zu sortieren. Sie fokussiert auf einzelne szenische Schlaglichter, lässt manches eher im Hintergrund laufen, holt anderes hervor. Bisweilen nimmt sie der Vorlage dabei zwar die Schärfe und die Lautstärke, aber das tut dem Text sehr oft gut. Und auf der anderen Seite zieht sie hier und da auch doppelte Böden ein, die trotz des Themas erheitern, wenn etwa der hartgesottene NSU-Uwe gedankenverloren auf dem Cello musiziert oder die großfamiliäre männliche Hochzeitsgesellschaft zu Hemd und Krawatte nur Boxershorts und Strumpfhalter trägt. Der Autor selbst jedenfalls schien mit dieser Lesart durchaus einverstanden zu sein, er war anwesend und applaudierte begeistert, ebenso wie der Rest des Premierenpublikums.

Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Kartentelefon 28 441 225. Nächste Termine: 26.09., 01.10. und 08.10.