Berlin. Neu aufgelegt: Fanny Lewalds hochpolitischer Liebesroman „Jenny“ aus dem Jahr 1843 erzählt von jüdischer und weiblicher Emanzipation.
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Im Zeichen der an Goethes „Faust“ gerichteten sprichwörtlichen „Gretchenfrage“ steht Fanny Lewalds 1843 aus familiärer Rücksicht anonym publizierter, da autobiografisch gefärbter und, dies gleich vorweggenommen, fulminanter Roman „Jenny“, dessen Handlung wohl nicht zufällig 1832, in Goethes Todesjahr, einsetzt. Die Titelheldin, eine junge, liberal erzogene Jüdin, tut sich schwer mit dem Glauben, zumal dem christlichen samt seinen verwirrenden Vorstellungen von Auferstehung und Trinität. Eher liegt ihr der Pantheismus Goethes – entsprechend spielt der „Faust“ in ihren komplexen religiösen Reflexionen, die sie hier parallel zu Ludwig Feuerbachs religionskritischer anthropologischer Ethik entwickelt, keine geringe Rolle: Gott – das ist die Natur, ja der Kosmos, die göttliche Schöpferkraft steckt in allem und jedem. Moralisch sieht Jenny „naturgemäß“ das Menschliche und damit die Herzensbildung am Zug. Dafür braucht es kein transzendentes Prinzip, es genügt das seinerzeit gerade zu Ende gegangene Zeitalter der Aufklärung mit seinen Ideen der Toleranz und universellen Gleichheit.

Das Jahr 1832, in dem kurz nach Goethes Tod auch der „Faust II“ erschien, ist zudem das des „Hambacher Fests“, auf dem sich Demokraten und Nationale unter schwarz-rot-goldener Fahne versammeln, Freiheit und die Einheit Deutschlands fordern, während es in Frankreich beinahe zeitgleich zum republikanischen Aufstand gegen den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe I. kommt. Kurz: Wir befinden uns im „Vormärz“, einer hochpolitischen Epoche – nicht zuletzt auch für die Juden, die in der Tradition der Haskala und im Geiste Moses Mendelssohns und Lessings die jüdische Emanzipation anstrebten. Das Religiöse war hierbei vom Politischen – sprich: der zu erkämpfenden gesellschaftlichen Gleichstellung – kaum zu trennen. Praktisch war diese nur durch Assimilierung oder Konversion zu haben.
Fanny Lewald, 1811 in Königsberg geboren und bekannt mit so bedeutenden Persönlichkeiten wie Heinrich Heine, Henriette Herz, Karl August Varnhagen von Ense oder Hedwig Dohm, entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie und konvertierte im Alter von 18 Jahren mit Erlaubnis der Eltern zum Protestantismus. Das tat sie, um soziales Außenseitertum zu überwinden, Diskriminierungen, die sie erleben musste, vorzubeugen, und nicht zuletzt, um die Heirat mit einem Christen zu ermöglichen – zu der es allerdings nicht kam. Dieses und noch mehr Lesenswertes über die auch „deutsche George Sand“ genannte Schriftstellerin und spätere Berliner Salonnière, die sich nicht nur für jüdische Emanzipation, sondern als Feministin avant la lettre auch für Frauenrechte engagierte und neben Romanen und Novellen auch Reisebeschreibungen schrieb, ist ihrer Autobiografie „Meine Lebensgeschichte“ zu entnehmen.
Die Protagonistin überwindet sich, den christlichen Glauben anzunehmen
In ihrem preußischen Gesellschaftsroman „Jenny“ verfährt die Autorin mit Klassikerformat sehr geschickt. Einerseits geht sie gleich in medias res und lässt „bei Gerhard, dem ersten Restaurant einer großen deutschen Handelsstadt“, neben dem schöngeistigen Maler Erlau und dem sympathisch liberalen Engländer William Hughes mit dem Kaufmannssohn Ferdinand Horn einen beinharten Antisemiten auftreten – Gegenstand ihres Streitgesprächs ist besagte Jenny Meier, „ein weiblicher Freigeist“, an deren Attraktivität jedoch niemand zweifelt. Andererseits versetzt sie den Leser bald in die beschauliche Welt des Biedermeiers, der mit dem Vormärz Hand in Hand geht. Hier sind deutliche Parallelen zu den Romanen „Jettchen Gebert“ und „Henriette Jacoby“ des großen jüdischen Schriftstellers und Biedermeier-Experten Georg Hermann zu erkennen, der bei Fanny Lewald einige Inspiration gefunden haben dürfte.
„Jenny“ ist ein brisant politisches Buch, aber ganz wesentlich auch eines über die Liebe. Und allein, da sie den protestantischen Pfarrer Reinhard, ihren einstigen Hauslehrer, liebt, geschieht es, dass auch die Protagonistin sich überwindet, wider ihre innere Überzeugung den christlichen Glauben anzunehmen. Damit, dass es zu der Heirat mit diesem, Pardon, frommen Waschlappen ebenfalls nicht kommt und er stattdessen die dümmlich-intrigante Trantüte Therese ehelicht, ist nicht zu viel verraten – man ahnt (und hofft) es schnell. Zudem bahnen sich weitere, teils tragische Liebesverwicklungen an. So verlieren etwa William Hughes und Jennys Bruder, der aufgeklärte und kämpferische Eduard, ihr Herz an die schöne Clara – ausgerechnet die Schwester jenes unangenehmen Ferdinands. Und mit dem Grafen Walter, der sich für Jenny interessiert, eröffnen sich schließlich ganz neue Aussichten.
Nur wenige Romane widmeten sich damals den Juden in der Gesellschaft
Nur wenige Romane des 19. Jahrhunderts widmen sich der Thematik der Stellung der Juden in der Gesellschaft oder rücken sie gar, wie es Lewald tut, demonstrativ ins Zentrum. Zu nennen wäre etwa der englische Roman „Daniel Deronda“ der nur wenige Jahre jüngeren George Eliot. „Jenny“ ist bei allem geschilderten Leid, zu dem die Erfahrung des Judenhasses zählt, aus einer Perspektive der Hoffnung geschrieben. „Wir wollen leben, um eine freie Zukunft, um die Emanzipation unseres Volkes zu sehen“, heißt es da etwa.
Wir, die wir um die Shoah wissen, der etwa ein Georg Hermann zum Opfer fiel, und die wir beobachten müssen, dass der Antisemitismus – rechter wie linker Couleur – wieder salonfähig zu werden droht, lesen das beklommen. Etliche der wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren jüdisch: Vicki Baum, Stefan Zweig, Gabriele Tergit, Franz Kafka und viele mehr. Ob die Lektüre grandioser Romane wie „Jenny“, deren Kanonisierung dringend zu wünschen ist, an menschenverachtender Hetze und Ausgrenzung etwas zu ändern vermag, bleibt zwar zu bezweifeln – die Hoffnung aber, so naiv sie anmuten mag, stirbt bekanntlich zuletzt.