Literatur

Leben und Sterben einer Mutter: „Eigentum“ von Wolf Haas

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Der österreichische Schriftsteller Wolf Haas, Schöpfer der Brenner-Romane.

Der österreichische Schriftsteller Wolf Haas, Schöpfer der Brenner-Romane.

Foto: Peter-Andreas Hassiepen / München / .

Dem österreichischen Schriftsteller Wolf Haas, Schöpfer der Brenner-Krimis, ist mit „Eigentum“ sein zärtlichster Roman gelungen.

Berlin. Die Mutter des Erzählers ist fast 95 Jahre alt und liegt im Sterben. Eigentlich hat er gerade andere Sorgen: Er muss eine Poetikvorlesung vorbereiten und ist noch ahnungslos, was er seinem Publikum erzählen soll. Aber der Tod kommt ja immer irgendwie dazwischen, er reißt Löcher in den Alltag, er zwingt den Erzähler woandershin. Er müsse jetzt „ihr Leben nachstricken“, sagt er. „Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt (nur noch zwei Tage).“

Wolf Haas, geboren 1960 im österreichischen Maria Alm am Steinernen Meer, hat sich vor allem mit seinen wunderbaren Romanen rund um den Detektiv Simon Brenner literarisch einen Namen gemacht. Neun Stück sind es inzwischen, erschienen zwischen 1996 und 2022, mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet und mit Josef Hader in der Hauptrolle teilweise kongenial verfilmt. Was diese Bücher so aufregend macht, ist vor allem der von ihnen angeschlagene Erzählton, der ausgewählte Eigenheiten des österreichischen Idioms mit dem Habitus des verschlagenen Welterklärers mischt und so auf spannende Weise suspekt wird. Dass sie immer auch von ihrem Material, also von der Sprache, handelten und damit so ihre Spielereien trieben, hat die Romane von Wolf Haas schon immer besonders lesenswert gemacht.

Dann kam die Inflation – und das Geld war hin

Das gilt auch für die Bücher außerhalb der Brenner-Reihe, vielleicht für sie noch stärker. „Das Wetter vor 15 Jahren“ (2006), eine als überlanges Interview getarnte Liebesgeschichte zwischen einer Literaturkritikerin und einem fiktiven Autor namens Wolf Haas, nahm auch die Phrasengewitter des Kulturbetriebs aufs Korn – während „Verteidigung der Missionarsstellung“ (2012) das eigene Zustandekommen als Roman thematisierte. Selbstbezüglich in einem noch weiteren Sinn sind die mit autofiktionalen Elementen durchsetzen Romane von Wolf Haas. „Junger Mann“ (2008) enthielt bereits entschlüsselbare Versatzstücke aus der Biografie des Autors, und mit seinem neuen Roman verhält es sich nicht anders.

Dessen Cover man übrigens nicht unerwähnt lassen sollte. „Eigentum von Wolf Haas“ steht in leuchtendem Stempelrot auf dem pappkartonfarbenen Cover, als habe man es mit frisch ausgeliefertem Diebesgut zu tun. Das Eigentum spielte eine zentrale Rolle im Leben der 1923 geborenen Mutter Marianne, sie hat das mit mantrahaft wiederholten Erzählungen ins Innenleben des Erzählers gemeißelt. Im Inflationsjahr 1923 geboren, lebte sie von Anfang an mit der Erfahrung, dass sich Geld über Nacht in wertloses Papier verwandeln kann. Umso stärker der Traum vom eigenen Grund und Heim, aus dem jedoch nichts wurde – bis zuletzt, bis zur vertraglich zugesicherten Ruhestätte auf dem Friedhof von Maria Alm. Nur eine Grube von knapp zwei Quadratmetern Grundfläche. Aber dafür versehen mit einem Kreuz, das ihren Namen trägt.

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Die knapp 95 Jahre dieses Lebens zeichnet der Erzähler nach, indem er in die mütterliche Perspektive wechselt und dabei ihren Sprachduktus mit „nit“, „eini“ und „aussa“ übernimmt – noch als Säugling von den verarmten Eltern auf einen Bergbauernhof in die Pflege gegeben, wo sie Kühe hüten und Socken stopfen musste, Luftraumüberwachung während des Krieges, nach dessen Ende beschäftigt in der Briefzensurstelle der US-amerikanischen Besatzungssoldaten, dann die Ausbildung an einer Hotelfachschule. Schwanger zurückgekehrt ins Heimatdorf, schließlich eine Wohnung zur Miete ergattert unweit des Friedhofs.

Ein anstrengendes Leben, ein oft schmerzhaftes auch. Wie verwandelt man es in etwas Erträgliches? Es gibt da eine Strategie: „Manche Dinge muss man immer wieder erzählen. Mit jeder Wiederholung wird die Erzählung etwas weniger wahr. Bis die Wiederholungen eine so unerschütterliche Form angenommen haben, dass sie jeden Bezug zur ursprünglich abgebildeten Realität verloren haben.“ So erklärt sich auch der mütterliche Dreiklang aus den existenziellen Hauptverrichtungen „arbeiten, arbeiten, arbeiten“ und „sparen, sparen, sparen“.

Wolf Haas findet zu seiner Mutter auf dem Weg der Sprache zurück. Wie sich das reservierte Verhältnis des Sohnes zu der oft griesgrämigen Frau im Lauf des Textes lichtet, wie sich eine gewisse Zärtlichkeit herstellt, eine Empathie gegenüber jemandem, den man ein Leben lang nicht in erster Linie als Menschen wahrnahm, sondern eben allein als Mutter: Das ist sehr ergreifend. Und weil Haas eben kein Melodramatiker ist und das Ausgleiten in den Kitsch vermeiden will, streut er immer wieder Absurdes, Lustiges, Entlegenes dazwischen: Das können Betrachtungen über den Konjunktiv sein (Warum sagt seine Mutter eigentlich dauernd „Das hätten wir also“ und „Da wären wir nun“?) oder Reflexionen über die Macht österreichischer Geldinstitute: „So wie die Trennung von Staat und Kirche war in diesem Land auch die Trennung von Dorf und Raiffeisenkasse niemals vollzogen worden.“ Manchmal reicht auch ein einfaches kleines Wortspiel, um die typisch Haas’sche Melodie aus Melancholie und Alltag herzustellen. „Ein Gesang ist die Sprache, die ewige Wiederholung ein Remedium, um in unzähligen Waschgängen den schmerzhaften Sinn herauszuwaschen aus dem Gesang“, heißt es einmal. Kaum einem Gesang lauscht man so gern wie diesem.