Spielzeit-Eröffnung

Welt ohne Männer: „Weltall Erde Mensch“ am Deutschen Theater

| Lesedauer: 5 Minuten
Sophie Klieeisen
Auf „unwahrscheinlicher Reise“: Sarah Franke, Julischka Eichel, Lorena Handschin, Anja Schneider und Julia Gräfner (v.l.).

Auf „unwahrscheinlicher Reise“: Sarah Franke, Julischka Eichel, Lorena Handschin, Anja Schneider und Julia Gräfner (v.l.).

Foto: Thomas Aurin

Alexander Eisenach eröffnet mit einem Science-Fiction-Vierstünder die Saison. Im Zentrum: Der Kampf der Geschlechter.

Berlin.  Wir sind in der Zukunft, doch das Café Moskau ist noch da. Etwas verändert und erheblich kleiner als in Wirklichkeit, denn wir sind nicht auf der Karl-Marx-Allee, sondern im Deutschen Theater. Samt Sputnikkugel steht es hinter der transparenten Videoleinwand, über ihm das mit der Raumkapsel ins Aug’ gespickte Mondgesicht des ersten Science-Fiction-Films „Reise zum Mond“ von Georges Méliès. Für viele eine gute Nachricht, weil es bedeutete, dass in der Zukunft vieles bleibt, wie es war, obwohl in ihr immer alles ganz anders werden soll. In der Café Moskau-Zukunft hat sich nichts geändert. Ist das wirklich gut?

Zwar gibt es in dieser Zeit von „Weltall Erde Mensch“, der Intendanzeröffnungspremiere am Deutschen Theater, kein Eigentum mehr, selbst die „Düsenklipper“, mit denen man sich offenbar bald fortbewegt, gehören niemandem. Aber so weit ist die Sharing Economy schon heute, ohne dass es Einfluss auf Eigentumsverhältnisse gehabt hätte. Auch anderes, wenn nicht alles, ist so, wie wir es kennen, insbesondere das Zwischenmenschliche.

Versatzstücke aus der Ideengeschichte des Sozialismus

Mit allen Bühnenmitteln, Live-Video (Oliver Rossol), Parallelspiel auf und hinter der Leinwand und viel guter Musik (Niklas Kraft, Sven Michelson) führt das krankheitsbedingt nur zehnköpfige Premierenensemble durch drei Teile – 1. Erde, 2. Weltall, beide schwarz-weiß, 3. Mensch, sehr, sehr farbig –, auf eine vierstündige „Bühnen-Expedition“ durch postsozialistische Bühnenbauten (Daniel Wollenzin), Textcollagen und szenisches Geschehen. Die Inszenierung von Regisseur Alexander Eisenach zeigt kein Theaterstück mit Personen, Plot, Problem und Lösung. Sie ist als „unwahrscheinliche Reise“ und „lustvolle Expedition ins Ungewisse“ angekündigt und ist es auch, nur nicht lustvoll. Folglich wäre es waghalsig, davon auszugehen, dass an diesem Abend etwas verhandelt würde. Es wird angesprochen, angestupst, viel gekläfft, gesprungen (thematisch) und gelaufen (auf der Bühne).

„Weltall Erde Mensch“ heißt ein Buch, das Jugendliche zwischen 1954 und 1974 anlässlich der Jugendweihe erhielten. Als realsozialistischer Bibelersatz vermittelte es populärwissenschaftlich Grundlagen über das Universum, die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens und die glanzvolle Zukunft des Menschen unter der Führung des Weltproletariats, letzteres eher spekulativ als empirisch. Es mag dem Abend den Rahmen gegeben haben; weitere Texte, Dialoge und Monologe entstammen nicht näher genannten Schriften hauptsächlich „aus der sozialistischen Ideengeschichte und dem Füllhorn philosophiegeschichtlichen Denkens verschiedener Jahrhunderte“.

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Erkennbar ist eine Quelle aus der amerikanischen Science-Fiction-Literatur der 70er-Jahre: „The Female Man“ von Joanna Russ. Darin gibt es einen Planeten namens Whileaway, auf dem nach einer fiesen Seuche, die alle Vertreter des männlichen Geschlechts dahingerafft hat, nur noch Frauen leben, die sich auf ausgebuffte Weise – sie haben die entsprechende Technologie entwickelt – selbst befruchten. Selbstverständlich sind mit dem Verlust der Männlichkeit jegliche sexuelle Gewalt sowie ihre Folgephänomene Angst und Körperscham verpufft. Mädchen können jederzeit den Finger in ihre Vagina stecken und andere fragen, was sie da gefunden haben mögen.

Im ersten Teil wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Whileaway nötig werden würde: die Unzufriedenheit der Frau (Anja Schneider) in der ihr eigentlich aufgezwungenen Ehe, in der sie gefälligst ihre Freiheit empfinden möge. Da sie das nicht tut und ständig findet, sie sei am falschen Ort, gelingt es ihr, ein Raumschiff mit seiner männlichen Besatzung (Alexej Lochmann, Felix Goeser) zu korrumpieren, zu manipulieren und es nach Whileaway zu fliegen.

Am Ende stellt sich, wie in „The Female Man“, heraus, dass die Geschichte mit dem männerausrottenden Virus möglicherweise nicht ganz stimmt, denn auf Whileaway taucht indessen noch ein Vertreter des männlichen Geschlechts (Peter René Lüdicke) auf. Dieser ist natürlich nicht ganz helle und gibt erst einmal ein Huhn. Davor wird ein Lied gesungen (Lorena Handschin) und Hate Speech für die Sache der Frau geübt (Julischka Eichel).

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Es werden auch andere Themen erörtert – „Ist die Möglichkeit eines Friedens eine Illusion?“, „Gibt es überhaupt so etwas wie ganz gerechte Gedanken?“, „Die Existenz von Existenz fasziniert mich immer wieder“ –, den roten Faden strickt aber der Geschlechterkampf. Dieses Thema im Spätsommer 2023 zu wählen, ist einigermaßen erstaunlich, zumal die Stoßrichtung des Konflikts den Anschein erweckt, als hätte er vor 40 Jahren stattgefunden: „Männlichkeit ist die Freiheit, alles zu tun“. Mit heutigen Diskussionen über Geschlechter hat das nichts zu tun. Da können die Kostüme (Claudia Irro) noch so sehr nach Kreuzberg aussehen, wo Vertreter nicht nur zweier Geschlechterformen in Latexlederklamotten durch die Nacht tänzeln.

Mit der ersten Premiere am Deutschen Theater unter der neuen Intendanz ist das Thema gesetzt, das sich auch in anderen Titeln der Spielzeit wiederfindet. Es ist zu hoffen, dass der Zugriff darauf auf eine zeitgemäßere Weise erfolgt als am Eröffnungsabend. Von den „unendlichen Varianten, in denen die Welt zwischen Menschen besprochen werden kann“, die Ulrich Khuon in seinem Abschiedsbrief ans Publikum des Deutschen Theaters beschworen hatte, ist an diesem fast unendlichen Abend keine übrig geblieben. Der Vorhang zu und keine Frage offen.