Berlin. Der Abend begann mit Vogelgezwitscher. In seinem 1914 entstandenen Stück „The Lark Ascending“ (Die aufsteigende Lerche) für Violine und kleines Orchester lässt der englische Komponist Ralph Vaughan Williams die Geige wunderbar trällern und zwitschern, dass man sich eher bei einem Picknick auf dem Land wähnte als im Konzert. Guy Braunstein war hier ganz in seinem Element. Voller Leichtigkeit und Brillanz bewegte er sich durch die pentatonischen Figuren des Stücks, dabei bereitete ihm das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) am Donnerstag in der Synagoge Rykestraße klanglich ein warmes Nest.
In eine ganz andere Welt führte das zweite Stück „Die Nacht wird immer verklärter“. Hierbei handelt es sich um eine Bearbeitung der Komposition „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg, die dieser im Alter von 25 Jahren für Streichsextett schrieb. In dieser frühen Phase war Schönbergs Schaffen noch stark von der Sprache der Spätromantik geprägt, die Einflüsse von Johannes Brahms und Richard Wagner sind unverkennbar. Grundlage für das Stück bildet das Gedicht „Verklärte Nacht“ von Richard Dehmel, das den Gang eines Paars im Mondschein beschreibt, bei dem die Frau ihrem Liebhaber gesteht, dass sie von einem anderen ein Kind erwartet. Dabei trifft sie auf großmütiges Verständnis bei dem Mann, der das Kind als eigenes annehmen will.
Guy Braunstein hat nun dieses Stück für großes Orchester und zwei Gesangssolisten bearbeitet, außerdem beauftragte er den Lyriker und Pianisten Daniel Arkadij Gerzenberg, ein Libretto dazu zu verfassen. Diese Neufassung konnte spontan überzeugen: Durch den Einsatz der Bläser gewann das Stück zusätzliche Farben, außerdem vergrößerte Braunstein die dynamischen Möglichkeiten durch die große Besetzung. Bemerkenswert war jedoch auch der Einsatz der Gesangssolisten, denn diese traten in dem Stück auch als Sprecher in Aktion. In seinem Libretto verknüpfte Gerzenberg Motive des Richard-Dehmel-Gedichts mit biografischen Elementen, die sich auf Dehmel und seine Frau Ida bezogen. Man erfährt Erschütterndes.
Die Kunstförderin Ida Dehmel setzte sich auch fürs Frauenwahlrecht ein
Ida Dehmel war eine engagierte Kunstförderin und Frauenrechtlerin, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzte und mit dem von ihr gegründeten „Frauenbund zur Förderung Deutscher Bildender Kunst“ Werke noch nicht etablierter Maler wie Franz Marc oder Oskar Kokoschka in Museen platzierte. Ab 1933 musste sie als Jüdin ihre Ämter niederlegen und durfte nicht mehr publizieren. Angesichts des Schicksals ihrer jüdisch-deutschen Mitbürger und ihrer persönlichen Lebenssituation, die von Angst, Einsamkeit und Krankheit geprägt war, nahm sich Ida Dehmel 1942 das Leben. Sehr eindringlich und ausdrucksstark gestalteten die schwedische Sopranistin Sofie Asplund und der dänische Tenor Peter Lodahl ihre Vokalparts. Das Publikum war so tief berührt, dass einige Zeit dauerte, bis es applaudierte.
Nach der Pause stand mit Antonín Dvořáks neunter Sinfonie „Aus der neuen Welt“ deutlich gefälligere Musik auf dem Programm, die das RSB unter Guy Braunstein mit warmen Farben in natürlichem Fluss zum Klingen brachten. Insbesondere die Hörner begeisterten hier durch druckvolles Spiel, doch auch das Englischhorn-Solo im zweiten Satz gelang ausnehmend schön und berührend. Da gab es zu Recht viel Beifall in der gut gefüllten Synagoge in der Rykestraße. Es war ein würdiger Abschluss der 36. Jüdischen Kulturtage.