Berlin. Steffen Kopetzky stellt seinen Historienroman „Damenopfer“ in Berlin vor. Ein faszinierender Rücksturz in eine Welt vor 100 Jahren.

„Sie war so etwas wie die strahlende Verkörperung einer neuen Zeit“, sagt Steffen Kopetzky über seine Romanheldin Larissa Reissner. Zwar ist das Buch „Damenopfer“, wie der Autor im Abspann betont, „ein Werk der Fiktion“, doch handelt es sich bei Reissner um eine historische Figur, deren 30 Jahre kurzes, abenteuerliches Leben im Februar 1926 in einem Moskauer Krankenhaus endet, die Folgen einer Typhus-Infektion. „Wie ein feuriger Meteor“ sei sie am Himmel der Revolution vorübergezogen, schwärmt Leo Trotzki in seiner Grabrede über die Autorin und Komintern-Agentin.

Boris Pasternak deklamiert ein für diesen Anlass verfasstes Gedicht. Pasternak, zu diesem Zeitpunkt nur als Lyriker bekannt, hat der an Reissner angelehnten „Lara“ später die weibliche Hauptrolle in seinem Roman „Doktor Schiwago“ gegeben. Kopetzky wiederum hat sich vor dem Schreiben von „Damenopfer“ eine gewaltige Leseliste mit russischer Literatur zusammengestellt – der Pasternak-Wälzer war dabei das für ihn wichtigste Werk.

Zwei zentrale Kapitel im Roman, „Die Totengräber“ am Anfang und „Prozession“ am Ende, spielen auf dem Wangankowoer Friedhof, auf dem Larissa Reissner bestattet wird. Passend zum unsteten Leben der Protagonistin führt „Damenopfer“ den Leser aber ebenso nach Berlin, Leipzig, Wiesbaden und – dies der Ausgangspunkt des späteren Spionage-Plots – nach Kabul.

Dort lebt Reissner in den frühen 1920er-Jahren als Gesandte der jungen Sowjetunion, ihr Mann Fedor Raskolnikow leitet die Botschaft. Die überzeugte Bolschewikin sucht den Zündfunken für eine spätere Weltrevolution und wird fündig: geheime Pläne, um das britische Empire zu zerschmettern, Ausgangspunkt Afghanistan. Verfasst hat diese Strategie ein Deutscher, Oskar von Niedermayer, auch er eine historische Figur, und eine wichtige ins Kopetzkys Roman über den Ersten Weltkrieg („Risiko“, 2016).

Eine Collage, die zwischen 1905 und 1948 wild vor- und zurückspringt

Steffen Kopetzky: Damenopfer, Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 26 Euro.
Steffen Kopetzky: Damenopfer, Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 26 Euro. © Verlag

In „Damenopfer“ schmiedet Kopetzky nun ein konspiratives Trio aus Niedermayer, Reissner und dem Rote-Armee-General Tuchatschewski. In einer als Handelsgesellschaft getarnten Außenstelle der Reichswehr in Moskau bahnen sie ein Bündnis zwischen der Sowjetunion und dem deutschen Militär an. Das ist eine bislang wenig beleuchtete Fußnote in den deutsch-russischen Beziehungen. Dass die drei Verschwörer so der geheimen Aufrüstung des Reichs (laut Versailler Vertrag explizit verboten) Vorschub leisten und mittelbar auch dem Angriffskrieg der Nazis ab 1939, ist ein Fluch dieser Geschichte. Und zugleich ein Geschenk für diesen virtuos komponierten Historienroman, in dem, wie so oft bei Kopetzky, alles mit allem zusammenhängt.

Über dem Plot liegt ein weiterer dunkler Schatten. Fast alle prominenten Politiker und Literaten, die 1926 zu Reissners Beisetzung kommen, werden in den Jahrzehnten danach Opfer des stalinistischen Terrors, der Straflager und Schauprozesse. Trotzki, den größten Widersacher um die Lenin-Nachfolge, erwischt der Eispickel des von Stalin entsandten Attentäters sogar im Exil in Mexiko. In einer vom Verlag verschickten Übersicht über die Zeitgenossen Larissa Reissners fällt Boris Pasternak insofern aus dem Rahmen, weil er 1960 eines natürlichen Todes gestorben ist.

Neben „Doktor Schiwago“ ist „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein ein wichtiger Einfluss für Kopetzky – der Autor orientiert sich stark an der Montagetechnik des sowjetischen Regisseurs. War der vorige Roman „Monschau“ streng linear erzählt, strukturiert vom zeitlichen Ablauf der beschriebenen Pockenepidemie 1962 in der Eifel, ist „Damenopfer“ eine Collage, die in einem Zeitraum zwischen 1905 und 1948 einigermaßen wild vor- und zurückspringt.

Wenn beim Schach die Dame dem Gegner zum Schlag angeboten wird

Das titelgebende Schachmanöver – die eigene Dame wird dem Gegner zum Schlag angeboten, dies ist aber Absicht und kein Unvermögen – wird im Buch erst relativ spät erklärt. Am Ende der Lektüre ist aber klar, warum eine andere Romanfigur der aufgebahrten Reissner eine weiße Schachfigur ins Leichenhemd schiebt …

Der Legende zufolge düpierte ein Bauernjunge mit dem Damenopfer einst den russischen Zaren Iwan, den Schrecklichen. Kopetzky, der die langen historischen Linien mag, moderiert die alte Geschichte so ab, dass man unweigerlich an den amtierenden Zaren Wladimir denkt: „Er ist wie ein Drache, der immer fressen muss. Deshalb merkt euch. Bietet ihm ein Opfer, nährt seine Gier, bis er sich überfrisst, und er wird sich selbst besiegen.“

Mit Blick auf Putins Gegenwarts-Russland ist aktuell wenig Optimismus angebracht. Umso faszinierender erscheint dieser literarische Rücksturz in eine Phase vor etwa 100 Jahren, in dem (Originalton Kopetzky) „Moskau tatsächlich die Welthauptstadt der Revolution war und für eine gewisse Zeit die wohl freieste Stadt der Welt“.

Buchpräsentation in Berlin: Pfefferberg-Theater, Schönhauser Allee 176. Am 20. September, 20 Uhr. Moderation: Thomas Böhm.