Berlin. Kreischende Streicher in der Philharmonie, stampfendes Schlagwerk, heulende Blechbläser-Sirenen: Alarmstimmung pur gleich zu Beginn in Xenakis‘ „Jonchaies“ (Schilfdickicht), einem eiskalt berechneten Publikumsreißer für Riesenorchester von 1977. Dabei verordnet Chefdirigent Kirill Petrenko den Berliner Philharmonikern hier sogar noch recht angenehme Lautstärken. Die Schockeffekte dieser Musik werden dadurch abgemildert. Statt niederschmetternder Apokalypse zelebrieren die Philharmoniker gepflegte Blockbuster-Action. Und das Publikum kann froh sein darüber, denn es bekommt an diesem Donnerstagabend noch genug auf die Ohren.
Nur Neue Musik der letzten 60 Jahre hat Petrenko diesmal zusammengestellt, ein dissonantes Programm, das zwischen Tod und Verzweiflung pendelt, zwischen Resignation und Zerstörung, zwischen Wut und Depression. Es ist ein Abend, den die Philharmoniker zum diesjährigen Musikfest Berlin beisteuern. Ein Abend, der aber selbst in diesem Rahmen wie eine Zumutung wirkt. Da ist die „Gesangsszene“ von Karl Amadeus Hartmann aus dessen Todesjahr 1963: eine zornige Anklage gegen gesellschaftliche Missstände – mit Bariton Christian Gerhaher als ungeschminktem Mahner und Endzeit-Beschwörer.
Und gleich danach „Stele“, eine Grabmusik des Ungarn György Kurtág zu Ehren seines Mentors András Mihály. Die Philharmoniker spielen diesen 12-Minüter mit inniger Hingabe und schüchternem Hoffnungsschimmer. Auch einiger Stolz scheint in ihrer Interpretation mitzuschwingen. Schließlich hat Kurtág dieses Werk 1994 für die Berliner Philharmoniker geschrieben und ihren damaligen Chefdirigenten Claudio Abbado. Normalerweise steht dieses Werk am Konzert-Anfang, auch wegen des nachdenklichen Schlusses, der das Publikum kaum aus seinen Sitzen reißt. Petrenko setzt Kurtágs „Stele“ trotzdem ans Ende des Programms. Ihm geht es heute nicht um Jubel und stehende Ovationen. Sondern eher darum, Hartmanns brutaler, unheilvoller „Gesangsszene“ eine versöhnliche, klangsinnliche Musik entgegenzusetzen.
Ein statisches Stück, das von mathematischen Formeln durchdrungen ist
Ein ähnliches Konzept verfolgt Petrenko auch schon in der ersten Konzerthälfte: Dort kontrastiert er das unerbittlich strenge „Jonchaies“ des Griechen Iannis Xenakis mit Márton Illés‘ leichtfüßigem „Lég-szín-tér“ (Luftszene). Xenakis‘ „Jonchaies“ ist von mathematischen Formeln durchdrungen, es wirkt statisch, flächig, grob und sehr konkret. Illés dagegen bietet flüchtige Gesten und schemenhafte Andeutungen. Er pflegt die Kunst des feinen Verwischens, des flüsternden Sprechens. Und er mischt Humor, Spiel und Spontanität hinein. Man könnte behaupten, dass Illés eine Art Mendelssohn-Scherzo im Stil des 21. Jahrhunderts geschrieben hat.
Und sicherlich ist es kein Zufall, dass Petrenko an diesem Abend Illés mit Kurtág zusammenbringt: Ähnlich wie Kurtágs „Stele“ vor 29 Jahren ist jetzt auch Illés‘ „Lég-szín-tér“ ein Auftragswerk für die Berliner Philharmoniker. Die Musiker widmen sich dieser Uraufführung mit virtuoser Flexibilität und hoher Überzeugungskraft. Und trotzdem: ein harter Abend insgesamt, nach dem man ziemlich bedient die Philharmonie verlässt.