Berlin. In den Hangar 1 ist die Komische Oper umgezogen. Mit der Premiere von Hans Werner Henzes politischem Skandalstück „Das Floß der Medusa“ wird am Sonnabend die neue Satellitenspielstätte im Flughafen Tempelhof eröffnet. Die sechs Vorstellungen rund um einen riesigen Pool, der mit rund 160000 Liter Wasser gefüllt ist, sind fast ausverkauft. Es kündigt sich ein außergewöhnliches szenisches Oratorienspektakel an. Aber beim Probenbesuch wird schnell klar, dass man später auch im Publikum zuerst über den Pool, Wassertemperaturen oder den Raumhall reden wird. Jeder wird wohl versuchen, eine Hand testend ins Wasser zu tauchen. Es herrscht irgendwie eine angenehme Spa-Atmosphäre.
„Ich hatte anfangs schon Befürchtungen, dass der Bewegungschor bei langen Proben rebellieren würde, aber derzeit sind die Außentemperaturen so hoch, dass sich alle freuen, ins Wasser zu gehen. Es ist eine Abkühlung“, sagt Opernregisseur Tobias Kratzer. Er hat sein Regiepult auf einer der Zuschauertribünen eingerichtet. Auf beiden Seiten gibt es zusammen Platz für 1500 Zuschauer. „Durch das Wasser ist die Beweglichkeit ein bisschen verlangsamt. Das müssen wir choreographisch ausgleichen“, sagt Hauptdarstellerin Gloria Rehm, die gerade eine Probe am Pool hinter sich hat. „Ich glaube, dass das Wasser alle Mitwirkenden unglaublich entspannt. Ich hatte eher erwartet, dass alle jammern würden, es sei ihnen zu kalt und sie hätten Hunger und Durst. Aber es ist eine tolle Arbeitsatmosphäre.“
Pragmatischer schaut Rainer Simon, der Leiter der Außenspielstätten der Komischen Oper, auf das 24 mal 25 Meter große Wasserbecken. „Wir arbeiten mit einem professionellen Poolbauer zusammen, es ist kein Alleinwerk des Bühnenservices“, sagt er. Jedes Leck wäre eine kleine Katastrophe. Dabei beträgt die Wassertiefe gerade mal 40 bis 50 Zentimeter. Die Schwankungen haben mit dem unebenen Hangar-Boden zu tun. Und auch die Temperaturschwankungen musste man im Blick haben an kühleren Tagen. „Am Anfang hatten wir zwei Wärmepumpen, wir haben dann auf vier nachjustiert“, sagt Simon. Schließlich soll sich kein Künstler erkälten.
Ein französisches Kolonialschiff strandet auf dem Weg nach Afrika
Das Holzfloß im Hangar ist bei der Probe ein faszinierender Anblick. Die dicht gedrängten Menschen darauf erinnern an das berühmte, heute im Louvre hängende Gemälde des französischen Romantikers Théodore Géricault (1791–1824). „Das Floß der Medusa“ griff einen politischen Skandal aus dem Jahr 1816 auf. Die Fregatte „Méduse“ gehörte zu einem kolonialen Konvoi auf dem Weg nach Afrika. Das Schiff lief aber auf Grund. Weil es zu wenig Rettungsboote gab, wurde aus Schiffsteilen ein Floß gezimmert. Das sollte mit Seilen an Land gezogen werden, aber irgendwann kappte man einfach die Seile. Auf dem Floß spielte sich daraufhin eine Tragödie ab, es gibt die Berichte vom Kannibalismus.
„Ich bin der Tod, Madame La Mort“, erklärt Sopranistin Gloria Rehm ihre Rolle. „Ich bin irgendetwas zwischen Sirene, Marlene Dietrich und Joker. Außerdem bin ich philosophisch angehaucht und verfüge über astronomische Kenntnisse. Ich stehe zwischen den beiden Polen, wonach der Tod entweder grausam oder eben verlockend ist, weil es das Ende des Martyriums bedeutet.“ Es sei eine schöne Aufgabe, verschiedene Facetten zeigen zu können, sagt die Sängerin, die im Herbst wieder als Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“ im Schiller-Theater zu erleben sein wird. Das Zwielichtige liegt ihr offenbar.
„Ich habe mich sofort auf diese sehr besondere Inszenierung in diesem supercoolen Raum gefreut“, sagt die Sängerin. „Ich habe mir keine Sorgen um die Akustik gemacht, denn der Raum ist ja eher überakustisch.“ Wir reden backstage in der Kantine, die überraschend gemütlich ist und in der man auch Billard spielen kann. „Ich musste mich trotzdem erst einmal anpassen“, beschreibt Gloria Rehm ihren Einstimmungsprozess in die neue Satellitenspielstätte. „Lauter kleine Organisationssachen: die Kabinen sind draußen und was mache ich, wenn es abends kalt wird? Musikalisch ist es wahnsinnig anspruchsvoll, auch, weil die Choristen und Choristinnen so weit auseinander sitzen. Ich musste mich in den Klang reinhören.“ Irgendwo in den Weiten des Raums muss die Solistin jeweils ihren Ton finden, um selber richtig einsetzen zu können.
Studentenproteste verhinderten 1968 die Uraufführung von Henzes Oratorium
„Der Bau musste erst einmal urbar gemacht werden“, sagt Tobias Kratzer oben an seinem Regiepult. „Für uns stellte sich zuerst die Frage, wie man die Aura und den Genius loci der Spielstätte nutzen kann. Man muss irgendwie die Raumenergie bündeln. Alles, was man an einem Bühnenbild im klassischen Sinne reinbauen würde, um den Raum zu überschreiben, kann zu Verlusten führen.“
Hans Werner Henzes Oratorium sollte im Dezember 1968 in Hamburg uraufgeführt werden. Proteste der 68er-Studentenbewegung führten aber zu Tumulten und einem Polizeieinsatz. Es folgte die Absage. Die gescheiterte Uraufführung gilt als einer der spektakulärsten Skandale der Musikgeschichte.
„Bei Henze war 1968 alles noch viel klassenkämpferischer gemeint, als es uns heute verdaulich ist“, sagt der Starregisseur. „Und ich denke, es geht auch darüber hinaus. Auf dem Floß befindet sich ein Querschnitt durch die Gesellschaft, wenn man so will: auch der gesunde Mittelstand der französischen Gesellschaft. Natürlich seilen sich der Kapitän und der Gouverneur ab, da gibt es eine klare Hierarchie. Aber wenn nach einer Viertelstunde die Rettungsboote abgespalten sind, fragt man sich nicht mehr: welche gesellschaftlichen Schichten kämpfen hier gegeneinander? Es ist dann fast eine existenzialistische Menschheitsparabel: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“
Im Hangar wird also kein Klassenkampf stattfinden. Er nehme das Stück erst einmal in seiner Struktur, seiner Eigentümlichkeit an und versuche es in seiner Parabelhaftigkeit zu belassen, sagt Tobias Kratzer. „Unser Setting ist bereits die halbe Message, man muss interpretatorisch nicht noch die fünfte Wurzel ziehen.“ Im Hangar soll das Oratorium szenisch entfaltet werden. „Das Stück mag auf verschiedenen Ebenen lesbar sein, aber in jedem Fall geht es um Ressourcenknappheit. Auf dem Floß wird es immer knapper, was Wasser, Essen und den bewohnbaren Lebensraum betrifft. Das kann in einigen Jahrzehnten uns allen blühen, wenn die Landstriche, in denen man ohne Klimaanlage leben kann, immer weniger werden. Aber diese Deutung will ich nicht mit dem Holzhammer zeigen.“
Bei dieser szenischen Produktion spielen 154 Personen auf der Bühne mit
Bei dieser Produktion seien 154 Personen auf der Bühne, sagt Rainer Simon. Für die neue Spielstätte hätte man sich an den Strukturen orientiert, „die große Festivals wie die Ruhrtriennale oder das Manchester International Festival haben. Im Hangar war vorher nichts drin.“ Wobei die Akustik allen Beteiligten die größten Sorgen bereitet. „Der Raum ist sehr hallig für Musiktheater. Da haben wir aber stückmäßig eine gute Wahl getroffen. Oratorien sind ja eher für hallige Räume komponiert. Das bestätigt sich bei Henze. Wir haben zahlreiche Maßnahmen getroffen.“
Simon nennt riesige aufblasbare Absorberschläuche, Akustikvorhänge oder ein Resonanzboden für das Orchester. Zusätzlich habe man einen erfahrenen Sounddesigner engagiert. Er hätte schon gemischte Gefühle gehabt, sagt der Leiter, als er das erste Mal den Hangar besichtigte. „Einerseits habe ich gedacht, was das für ein fantastischer Raum ist. Auf der anderen Seite habe ich die viele Arbeit gesehen, weil es wirklich ein leerer Raum war. Selbst bei der vorhandenen Infrastruktur mussten wir nachjustieren. Licht und Ton brauchen Starkstrom. Es gibt hier Toiletten, aber fürs Publikum war es keinesfalls ausreichend.“ Der Hangar sei zwar riesig, aber backstage gäbe es auch einen Mangel an kleineren Räumen.
Flughafen Tempelhof – Hangar 1, Columbiadamm 10, Tempelhof. Tel. 47997400 Termine: 16.9. (Premiere), 23., 26., 28., 30.9. und 2.10. jeweils 20 Uhr