„Schlange“ in Schmargendorf

Wohnen über der Autobahn – nur in Berlin ist das möglich

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Ulli Kulke
Die Autobahneinfahrt am Rande des Rheingauviertels.

Die Autobahneinfahrt am Rande des Rheingauviertels.

Foto: Muhs / picture alliance / Caro

Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Schmargendorf ist weltweit einmalig. Wie kam das Haus zustande?

Das Jahr 1980 neigte sich dem Ende zu. Lech Walesa hatte gerade begonnen, das kommunistische Weltreich von innen herauszufordern, Ronald Reagan schickte sich an, die Wahl zum Präsidenten der USA zu gewinnen. Und dazwischen, im kleinen, eingemauerten West-Berlin, schrieb man internationale Baugeschichte. Ein Gebäude wurde im Oktober von seinen ersten Bewohnern bezogen, hinter dem eine alte, spektakuläre architektonische Idee stand, geboren bereits im frühen 20. Jahrhundert, immer wieder diskutiert und ausgemalt vor allem an Universitäten und bei Kongressen, besonders in Europa und Amerika, nie zuvor ausgeführt, jetzt in Berlin-Schmargendorf doch realisiert – und danach nie wieder, nirgendwo. Berlin hat ein weltweites Unikat. Zurecht wurde das Bauwerk deshalb vor sechs Jahren unter Denkmalschutz gestellt, wuchtig wie es ist, mit 600 Metern fast doppelt so lang wie das ICC, 70 Meter in der Breite und 46 in der Höhe. Mit weit über 1000 Wohnungen, Ladenzeilen, ausgedehnten Nebenflügeln mit weiteren Hunderten Wohneinheiten. Und, vor allem: mit einer Autobahn, längs mitten hindurch, die ganze Strecke.

Die „Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße“, wie das leicht gekrümmte Projekt offiziell heißt (die Bewohner sagen: „Die Schlange“), hat in ihren gut 40 Jahren Höhen und Tiefen erlebt, war von Anfang an umstritten. Harry Ristock, damals Bausenator in der sozialliberalen Regierung, prophezeite bei der Einweihung: „Die Wohnungen werden einmal zu den besten Adressen Berlins gehören“. Anders sah das der CDU-Politiker Richard von Weizsäcker, ein Jahr später Regierender Bürgermeister: „Wenn der Teufel dieser Stadt etwas Böses antun will, lässt er noch einmal so etwas wie die ‚Schlange‘ bauen.“

Das Überbaufieber erfasste Architekten und Politiker der Stadt

Eines hat der Komplex gerade verloren, in gewisser Weise seine ganze Sinnstiftung: die Autobahn in seinem Bauch, die A 104, die einst den Stadtring A 100 mit der „Westtangente“ A 103 verbinden sollte. Sie wurde sowieso nie vollendet, endete am Breitenbachplatz, und wurde 2006 zur Straße herabgestuft und jetzt, 2023, gesperrt. Erst über dem Breitenbachplatz, weil ihre monströsen Betonmassen dort ganz verschwinden sollen, um dem Platz seine alte Würde wiederzugeben. Schließlich auch unter der Schlange, weil die Entlüftung und der Brandschutz nicht mehr gewährleistet waren. Hintergrund: Die Verästelungen der Stadtautobahnen, die aus der mittleren Mauerzeit stammen, stehen heute insgesamt zur Disposition. Selbst zum Rückbau der Westtangente gibt es Überlegungen.

Angefangen hatte alles, als vor einem guten halben Jahrhundert in der Berliner Architekturszene eine alte Idee wieder einmal Fürsprecher fand: Das Bandstadtprinzip, in der Branche virulent seit 1910, zunächst in den USA, wo man eine Schnellstraße von Washington nach Baltimore und später von New York nach Philadelphia überbauen wollte, aufgegriffen auch vom Betonfreund Le Corbusier, der ähnliches für die Umgebungen von Rio und Algier plante. Autobahnen, U-Bahnen, Fernbahnen – nichts war mehr sicher vor Überbauungsplänen. Keines dieser „Roadtown“-Projekte wurde verwirklicht. Nur für überbaute Bahnhöfe reichte es in den USA, 1963 etwa beim 59-stöckigen PanAm-Building über der New Yorker Grand Central Station, entworfen von Walter Gropius. Woraufhin 1967 die Bundesbahn 145 Bahnhöfe zur Überbauung anbot und Unternehmer, Stadtverwaltungen und Ingenieurbüros bereits halbe Städte über Gleisfeldern und Güterbahnhöfen auf ihre Reisbretter projektierten. Sie blieben Luftschlösser.

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In Berlin, wo der TU-Professor Oswald Mathias Ungers „eine ganze Studentengeneration für die ‚städtische Großform‘ zu begeistern suchte“ und Gutachten erstellen ließ für 20-Geschosser über 500 Autobahnkilometer von Hamburg bis Frankfurt, wie der Spiegel damals berichtete, fiel der Gedanke auf besonders fruchtbaren Boden. „Das Überbau-Fieber erfasste Architekten und Politiker in der Stadt. Ein Arbeitskreis wollte ein Eislaufstadion über dem Avus-Verteiler am Funkturm errichten, und das Land Berlin vergab seinen Lenne-Preis für den Vorschlag, das Schöneberger Autobahnkleeblatt mit einer Grünanlage zu überdachen.“

Ende der 1960er-Jahre dann wollten in der Stadt gleich zwei Architektengruppen endlich Ernst machen. So präsentierten die späteren Erbauer des ICC, Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte in der „Bauwelt“ ihr spektakuläres Projekt einer Avus-Überbauung auf neun Kilometer Länge. Ebenfalls in jener Zeit legten die futuristisch ambitionierten Baumeister Georg Heinrichs sowie Gerhard und Klaus Krebs ihre Pläne für die spätere „Schlange“ vor.

Das mit der Avus war sowohl dem Senat als auch eventuellen Bauträgern eine Nummer zu groß und riskant, die Pläne wurden ad acta gelegt. Heinrichs und seine Kollegen dagegen konnten für Ihre vergleichsweise handliche Idee den größten Baulöwen der Halbstadt gewinnen: Heinz Mosch. Der Autobahnabzweig durch Schmargendorf war zu der Zeit sowieso geplant. Mosch hatte im Zuge dessen Neubauchancen gewittert und sich vorsorglich Liegenschaften am Rand der projektierten Schnellstraße gesichert. Als seine Ingenieure noch darüber grübelten, wie sie durch aufwendigen Schallschutz den Autolärm abwehren könnten, waren ihnen die drei Architekten entgegengekommen: Warum nicht Ganzkörper-Schallschutz, rundum, den Lärm unter Wohngebirgen eingekapselt?

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Bausenator Rolf Schwedler, sozialdemokratischer Autogerechtigkeitsfanatiker, ließ sich elektrisieren, stellte in Aussicht, die damals reichlich sprudelnden Bundeszuschüsse entsprechend zu kanalisieren und überließ Mosch den Luftraum über dem Autobahnstutzen als Baugrund. Umsonst, in Erbbaurecht für 99 Jahre, für Sozialwohnungen. Die Baukosten waren zunächst auf 350 Millionen Mark veranschlagt. Das Projekt wurde gegen umfangreichen Widerstand von Kleingärtnern und anderen Anwohnern durchgezogen, die Sorge hatten um ihren ruhigen Stadtteil und Verschattungen durch das Wohngebirge fürchteten.

Bald schon wuchsen auch die Baukosten in den Himmel. Besonders als schon in der Bauphase deutliche Verwerfungen auftraten. Der Grund: Wohnkomplex und Autobahnröhre haben unterschiedliche Fundamente, hängen nicht zusammen, damit der Verkehrslärm nicht übertragen wird. Die Folge: Röhre und Hochhäuser sackten während des Baus in unterschiedlichem Maße ab, die Statiker hatten die Moorlinse im Baugrund unterschätzt. Notwendige millionenschwere Stützaktionen trugen dazu bei, dass Mosch vor der Pleite stand. Er musste sich aus dem Projekt zurückziehen. Bausenator Klaus Riebschläger, Schwedlers Nachfolger und Aufsichtsratsvorsitzender der DeGeWo, ließ seine gemeinnützige Wohnungsgesellschaft die „Schlange“ übernehmen. Der Senat, in jenen Jahren stets reichlich beglückt durch Bonner Milliarden, schaffte es, die am Ende auf 28 Mark pro Quadratmeter gestiegene Kostenmiete für den Sozialbau um rund 80 Prozent auf 5,24 Mark herunter zu subventionieren, ein einmaliges Verhältnis. Presse, Funk und Fernsehen überboten sich mit Kritik, doch in jenen Jahren, da Namen von Skandalfiguren wie Kressmann-Zschach und Garski die Baugeschichten der Stadt dominierten, konnte die Berliner kaum etwas erschüttern.

Den Verlust der Autobahn können die Bewohner verschmerzen

Nachdem wiederum Riebschlägers Nachfolger Ristock gegen Ende 1980 die Einweihung glücklich feiern konnte, plagten die DeGeWo wie auch die Bewohner eher andere Sorgen, die Ristocks Worte („beste Adresse“) zunächst Lügen straften. Das Wohngebirge für untere Einkommensschichten entwickelte sich zügig zum sozialen Brennpunkt. Vandalismus, Rauschgifthandel und andere Kriminalität setzten den Komplex in einen schlechten Ruf, der den ansonsten eher zurückhaltende von Weizsäcker schon an den Teufel denken ließ, und sich in den 90er-Jahren sogar verbreiteter Leerstand einstellte. Bauliche Veränderungen, nur noch begrenzter öffentlicher Durchgang und ein Wachschutz sorgten dann für Ruhe im Bau, das Auslaufen der Sozialbindung obendrein für stärkere soziale Durchmischung der Bewohner. So dass sich bei ihnen insgesamt nach Jahrzehnten größere Zufriedenheit einstellte. Ein großer Anteil Maisonette-Wohnungen mit geräumigen Terrassen auch in höheren Etagen sowie ausgefeilte Grundrisse bestärken das Gefühl, in einem ganz besonderen Gebäude zu wohnen, das die Umgebung nach wie vor in den Schatten stellt. Den Verlust des weltweiten Alleinstellungsmerkmals, der Autobahn im zweiten und dritten Stock, dürften sie verschmerzen.