London. Vladimir Jurowski dirigierte sein Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin erstmals bei den Londoner „Proms“ und wurde bejubelt.

Chefdirigent Vladimir Jurowski hatte seine Berliner Musiker schon vorgewarnt, dass es unerwartete Zwischenrufe aus dem Londoner Publikum geben könnte. Das geschieht dann auch beim „Proms“-Konzert in der Royal Albert Hall. Als der Konzertmeister sich vom Flügel den Kammerton zum Einstimmen holt, beginnt ein fröhliches Bravogeschrei vor der Bühne. Als der Deckel des Flügels aufgerichtet wird, setzt ein routinierter He-ho-Chor ein. Und in der Konzertpause teilt ein versierter Sprechchor lautstark mit, wie viele tausende Pfund man für ein Jugendprojekt ähnlich „Jugend musiziert“ eingesammelt hat.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) spielte am Donnerstag zum ersten Mal bei den „Proms“. „Es ist schon eine ganz große Gelegenheit für uns alle“, sagt Jurowski am Rande des Konzerts. Der Stardirigent war zuvor auch Chef des London Philharmonic Orchestra, hat selber 20 Mal bei den „Proms“ dirigiert und verfügt über die besten Verbindungen. „Ich konnte die Leitung der ,BBC Proms’ überzeugen“, so Jurowski. „Ich habe ihnen gesagt, ihr seid im vergangenen Jahr gerade 100 Jahre alt geworden. Wir sind jetzt 100 Jahre alt. Also sind wir eine verschwesterte Organisation.“ Außerdem wollte man nicht noch einmal 100 Jahre warten. Die BBC, sei hinzugefügt, ist so etwas wie die Mutter aller Rundfunkstationen.

Chefdirigent Vladimir Jurowski (links) und Pianist Kirill Gerstein kommen von der Bühne.
Chefdirigent Vladimir Jurowski (links) und Pianist Kirill Gerstein kommen von der Bühne. © Peter Meisel

Die Royal Albert Hall ist ein imposanter Konzertort. Die preiswerten und offenbar begehrtesten Stehplätze befinden sich in der Mittelarena vor der Bühne des Konzerthausriesen mit insgesamt 5900 Sitzplätzen und bis zu 2500 Stehplätzen. Die so genannten Prommers, was die Verkürzung von Promenaders ist, sind das raue Herz des Londoner Publikums. Aber es gibt auch sehr elegante Logen mit Häppchen, Wein und diskreten Vorhängen. Dennoch ist die Kleidung der Besucher insgesamt sehr leger, gelegentlich verwirren Männer in kurzen Sporthosen und Socken. Gleich nebenan liegt der Kensington Park, wo sich auch das prächtige Denkmal für Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Gemahl von Königin Victoria, befindet.

Wer in der Royal Albert Hall spielt darf nicht zimperlich sein

Der 1871 eröffnete Kuppelbau entstand auf Anregung vom Prinzgemahl Albert und ist einem römischen Amphitheater nachempfunden. Er steht für die viktorianische Baukunst und aus allen Fugen strömt nach wie vor das Machtverständnis des britischen Empire. Wer in diesem Haus Musik macht, darf nicht zimperlich sein. „Man darf hier nicht defensiv spielen“, erklärt Jurowski: „Immer erst einmal reinpowern und das Publikum erreichen.“ Seine Musiker haben es im Konzert aufs Klangvollste beherzigt und sind am Ende auch bejubelt worden. Die „Proms“ seien das wichtigste Orchesterfestival der Welt, betont Jurowski. Wir reden von gut 70 Sommerkonzerten nacheinander. „The Last Night of the Proms“, die Mischung aus Karneval und Klassikkonzert, hat wohl jeder schon mal im Fernsehen gesehen. Bei der diesjährigen Last Night am 9. September spielt wieder das 1930 gegründete BBC Symphony Orchestra.

Die Prommers auf den Stehplätzen direkt vor der Bühne in der Royal Albert Hall machen auch ihre Zwischenrufe.
Die Prommers auf den Stehplätzen direkt vor der Bühne in der Royal Albert Hall machen auch ihre Zwischenrufe. © Peter Meisel

„Es ist schon ein bisschen Zirkusarena“, so Jurowski, „und der Saal wurde auch nicht für Konzerte aufgebaut. Hier gab es Autoausstellungen, Pferderennen, Auktionen...“ Auf den langen Fluren im Haus hängen die Fotos und Plakate aus der Geschichte. Die Klassikstars gingen ein und aus, The Beatles spielten hier 1963, The Who 2009, Adele gab ihr Debüt 2011. Japanische Sumoringer kämpften 1991 und ein Plakat zeigt Alfred Hitchcock, der bereits 1934 in der Royal Albert Hall Szenen für seinen Film „Der Mann der zuviel wusste“ drehte. Die Suffragetten machten hier auf sich aufmerksam.

„Die Proms baten mich, etwas aus der Berliner Geschichte mitzubringen“, sagt Jurowski. „Mir kam die Idee mit der Kleinen Dreigroschenmusik für Blasorchester. Die knüpft genau an die goldenen Zwanziger an, das mögen die Prommers sehr gerne. Kurt Weill hat ja einen Kulturstatus auch in England.“ Und tatsächlich lauschen die Prommers andächtig den Bläserklängen der kleinen, aber schlagkräftigen RSB-Besetzung. Das Publikum in der Royal Albert Hall ist unfassbar konzentriert. Niemand hustet oder raschelt gelangweilt. „Es ist ein spezielles Gefühl“, sagt Jurowski über seine Erfahrung am Pult. „Das Erstaunliche ist die Stille, die die 6000 Leute erzeugen, nicht der Lärm beim Applaus. Es ist ein sehr aufmerksames Publikum.“ Er spricht von einem „Meer an Köpfen, die dann auch lebendig werden.“ Daran müsse man sich gewöhnen.

Die Akustik auf der Bühne ist trocken wie in einer Keksdose

Aber die Bühne sei ein Schocker, sagt der Dirigent. Es meint die Akustik. Er vergleicht sie mit einer Schwimmhalle, aber hinter den Bläsern auf der Bühne sei sie trocken wie in einer Keksdose. Man höre nicht den Kollegen, der zwei Meter neben einem sitze. „Unerfahrene Orchester erleben hier ihr blaues Wunder.“ Sein Tipp ist: „Man muss einfach versuchen, so zu spielen, wie man immer spielt.“ Und muss dabei immer bei sich selbst bleiben. „Unser Orchester ist ein sehr emotionales Orchester, es ist nie kaltschnäuzig oder nur professionell.“

Die Stimmung in der Royal Albert Hall ist anders als in der Open-Air-Waldbühne, der Mercedes-Benz Arena oder anderen großen Mehrzweck-Spielorten. Es herrscht elegante Funktionalität mit höflicher Gelassenheit. Auf den Fluren kann man beiläufig ein Eis kaufen und unkompliziert mit der Kreditkarte bezahlen. In Brexitland funktioniert Wlan. Viele nehmen sich ihr Bier mit in den großen Saal. Muss sich der Dirigent anders präsentieren? „Ich schlage hier nicht größer als ich es in der Berliner Philharmonie tun werde“, sagt Jurowski. „Teilweise muss man die Dynamik anders disponieren.“ In Berlin wird das Programm am heutigen Sonnabend zu erleben sein.

Thomas Adès’ Klavierkonzert mit dem Pianisten Kirill Gerstein und Sergej Rachmaninows spätromantisch anmutende, dritte Symphonie gefällt den wippenden Prommers und den sitzenden Besuchern dahinter. Gerstein schafft es mit virtuoser Leichtigkeit, die beiden Welten von Klassik und Jazz verschmelzen zu lassen. Rachmaninows letzte Sinfonie verströmt viel Atem. Aber den eigentlich Coup kündigt Jurowski dann doch an. Das berühmte Cis-Moll-Präludium erklingt in einer Orchestrierung von Sir Henry Wood. Der war ein Freund und Förderer von Rachmaninow. Wood ist der „Proms“-Heilige. Das RSB wuchtet das Präludium durch den Saal. Das Londoner Publikum ist hin und weg.