Film der Woche

"Nostalgia": Die Vergangenheit ist nicht vergangen

| Lesedauer: 6 Minuten
Felix Müller
Pater Luigi Rega (Francesco Di Leva) und Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) unterwegs im Viertel Sanità.

Pater Luigi Rega (Francesco Di Leva) und Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) unterwegs im Viertel Sanità.

Foto: © 2022 Picomedia – Mad Entertainment – Medusa Film –Rosebud Entertainment Pictures

In Mario Martones wunderbarem Film „Nostalgia“ kehrt ein Mann nach 40 Jahren in seine Heimatstadt Neapel zurück.

Neapel ist in diesem Film eine Stadt, aus der die Schatten niemals ganz verschwinden. In den Treppenaufgängen der Mietshäuser bröckelt der Putz, verbeulte Briefkästen rosten vor sich hin, und die Stufen führen in ein verwohntes, abgewracktes Irgendwo. Vor der Türen müssen die Klingelknöpfe mit Gittern vor Sachbeschädigung geschützt werden. Alles ist vollgesprüht, in den Gassen liegt Müll vor vollgesprühten Fassaden. Und doch blüht das Leben hier im Viertel Sanità am Fuß des Hügels von Capodimonte, wo sich der Adel vor langer Zeit einmal seine Palazzi hinstellte und wo heute die einkommensschwachen Schichten zuhause sind: Auf dem Marktplatz, vor den Bars oder in der Kirche von Don Luigi Rega (Francesco di Leva) treffen sich die Jugendlichen zum Boxen, Tanzen und Reden treffen.

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Es ist diesem Film mit der ersten Sekunde anzumerken, dass er eine Liebesbeziehung zu dieser besonderen Stadt pflegt, deren unansehnliche Seiten er zeigt, ohne sie dem Spott oder der Häme preiszugeben. Vielleicht kann so etwas nur ein Einheimischer so überzeugend leisten: Regisseur Mario Martone wurde 1959 in Neapel geboren – in dem Jahr, in dem der Mann starb, von dem Martones erster abendfüllender Spielfilm handeln sollte. „Morte di un matematico napoletano“ (1992) handelte vom bemerkenswerten Leben des Mathematikers Renato Caccioppoli, der 1938, als Adolf Hitler Benito Mussolini in Neapel besuchte, durch lautstark vorgetragene antifaschistische Reden auf sich aufmerksam machte. Auch in jüngerer Zeit hat Martone seiner Heimatstadt mit dem Drama „Qui rido io“, das im Neapel der Belle-Époque-Zeit spielt und bei den Filmfestspielen von Venedig 2021 im Wettbewerb lief, seine Reverenz erwiesen. Mit dem Film „Nostalgia“, seinerseits beim Filmfestival von Cannes 2022 vertreten, bleibt er sich darin treu.

Ein Wiedersehen mit der eigenen Jugend

Wir sehen Neapel hier durch die Augen eines Heimkehrers, der mit der Stadt eigentlich abgeschlossen hatte. Aber man bekommt die Herkunft nicht aus sich heraus, auch Felice Lasco nicht. Pierfrancesco Favino spielt einen Mann, der nach 40 Jahren in seine Heimatstadt zurückkehrt. Wir sehen ihn in langen Einstellungen durch die abgewetzten Gassen schlendern, vorbei an Gemüseverkaufsständen und alten Elektrowarenläden, die Mopeds fahren ihn manchmal fast über den Haufen. Er trägt eine für die Gegend viel zu edle Anzugkombination. Felice hat es in Kairo als Bauunternehmer zu einigem Vermögen gebracht, nun ist er wieder in Neapel, um seine Mutter ein vielleicht letztes Mal zu sehen. Er findet sie nicht in ihrer Wohnung vor und muss erfahren, dass sie sich diese vom Vermieter schon vor einiger Zeit hat abschwatzen lassen und nun ein lichtarmes Loch im Erdgeschoss bewohnt. Die erste Begegnung von Felice mit Teresa (Aurora Quattrocchi) ist von einer wunderbaren Zärtlichkeit: Da ist die Scham der Mutter über ihre eigene Gebrechlichkeit. Da ist die Bestürzung des Sohnes darüber, der sich zugleich nichts anmerken lassen will. Das erste Gespräch der beiden nach all den Jahrzehnten handelt in Blicken und Berührungen nur von der Freude, einander wieder in die Augen sehen zu können. Das ist große, herausragend gefilmte Schauspielkunst.

Felice muss Abschied nehmen. Noch vor dem Trauergottesdienst bemerkt er die Gewalt, die in Sanità die Straßen regiert – nachts, wenn sich niemand mehr auf die Straßen traut außer denen, die Schusswaffen bei sich tragen und sie auch benutzen. Don Luigi hält vor seiner Kirche flammende Reden gegen die Ägide der Camorra, die immer neue Opfer fordert. Umso entsetzter ist er, als Felice ihm erzählt, dass er auf der Suche nach einem der Anführer ist: nach Oreste Spasiano (Tommaso Ragno), der als Anführer der ortsansässigen Kriminellen geht.

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Martone überführt hier das Mutter-Sohn-Drama in einen Film, der von einer tragisch beendeten Freundschaft handelt. In quadratischen Super-8-Aufnahmen aus den Siebzigern sehen wir den jungen Felice (Emanuele Palumbo) mit dem jungen Oreste (Artem) auf dem Mofa durch die Straßen seiner Stadt brettern – und die titelgebende Nostalgie wird verständlich: Waren jene Jahre nicht die Zeit der Freiheit und des wahren Glücks? Sie sind jedenfalls der Grund, warum Felice Oreste wiedersehen will – der allerdings hat als hauptberuflicher Mafioso wenig Interesse daran. Im Gegenteil: Er lässt Felices neu erworbenes Moped verbrennen und seine Wohnung verwüsten, um ihn zu warnen. Man ahnt, dass es im Keller der gemeinsamen Geschichte Skelette gibt, die Oreste nicht mehr anrühren will. Und auch Don Luigi versucht, Felice von seinen Plänen abzuhalten, Oreste zu treffen. Dass sich beide am Ende begegnen werden, ist vorhersehbar. Auch die Lektion, dass die Gestade der Vergangenheit nicht mehr allzu hell glänzen, wenn man sie einmal genauer in Augenschein nimmt, zählt nicht zu den neuesten. Es geht hier aber auch nicht um eine besonders überraschende, sondern um eine besonders präzise erzählte Geschichte.

Don Luigi nimmt Felice einen Tag lang mit, um die Menschen im Viertel von Sanità kennenzulernen. Das italienische Leben in den Höfen und auf den Plätzen, die Alltagsgespräche beim Abendessen, die Mischung aus Motivations- und Erschöpfungsgeräuschen im Boxtrainingszentrum, die Rituale eines Gottesdienstes, der scherzhafte Wortwechsel mit dem Personal in der Bar – das alles findet hier in selten gesehener Echtheit statt. Ein sehenswerter Film, der mit seinen Mitteln nicht hausieren geht, aber das beste aus ihnen zu machen weiß.