Im Jahr 1969 gab es in der japanischen Präfektur Nigata einen Rekordschneefall, der praktisch alles zum Erliegen brachte. Der Fotograf Daido Moriyama fuhr für das Magazin „Asahi Camera“ dorthin, um die Folgen in Bildern einzufangen. Allerdings auf seine ganz spezielle Weise. Die entstandenen Fotos waren Teil seiner monatlichen Beitragsserie „Accident“, in der er sich intensiv damit auseinandersetzte, wie bestimmte Ereignisse in der Presse dargestellt wurden.
Inspiriert wurde er dabei durch die Arbeiten von William Klein und Andy Warhol. Moriyamas fotografische Handschrift ist aber unverkennbar. Als „Are, bure, boke“ wird sein früher Stil im Japanischen charakterisiert. Also körnig, verschwommen und unscharf mit ungewöhnlichen Bildausschnitten. Dadurch fehlt seinen Bildern das exhibitionistisch Sensationsheischende. Aber unter der Oberfläche lauern dafür in verstärktem Maße Dunkelheit und Fremdheit.
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Der bis heute künstlerisch aktive 84-Jährige gehört zu den einflussreichsten Repräsentanten der zeitgenössischen japanischen Fotografie. Nun ist bei C/O Berlin die umfassende Werkschau „Daido Moriyama. Retrospective“ zu sehen, die in Zusammenarbeit mit dem Instituto Moreira Salles und der Daido Moriyama Photo Foundation entstand. Nach Brasilien ist Berlin die zweite Station.
Eingebunden war von Anfang an auch Kuratorin Sophia Greiff, seit 2023 eine der beiden neuen künstlerischen Leiterinnen von C/O Berlin. Sie hat die zweigeteilte Ausstellung mit rund 250 Werken sowie Veröffentlichungen und Schriften effektvoll adaptiert. Präsentiert werden vor allem Exhibitionprints, die unter Anleitung Moriyamas 2022 in Tokio entstanden. Einen Vintage Print gibt es aber doch: „Stray Dog“. Moriyamas berühmtes Foto vom streunenden Hund.
Daido Moriyama: Der Umgang mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg
Sophia Greiff verweist darauf, dass der beunruhigend wölfisch wirkende Vierbeiner auch als metaphorisches Selbstporträt Moriyamas gedeutet wird. Und, dass der Fotograf Elitäres immer abgelehnt hat. Was auch in seinen Arbeiten erkennbar ist. Den ersten Teil prägen die körnigen Schwarzweiß-Fotografien, die dokumentieren, wie die japanische Kultur nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg mit dem Verschwinden traditioneller Lebensweisen und der Verwestlichung des Landes konfrontiert war.
Geboren 1938 in Ikeda (Osaka), zog Daido Moriyama 1961 nach Tokio und war dort zunächst freiberuflich für verschiedene Zeitschriften tätig. Er lieferte Beiträge für das experimentelle Magazin „Provoke“.
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Der zweite Teil der Schau widmet sich den Farbfotografien, die Moriyama nach einer Lebens- und Schaffenskrise verstärkt anfertigte. So vielfältig seine Projekte auch sind, konzentriert sich Moriyama zumeist auf Bilder von Städten und Erkundungen von Licht und Schatten, Form und Abstraktion. Und stellt dabei immer wieder konventionelle Vorstellungen von fotografischer Realität in Frage.
C/O Berlin: Ausstellungen von Jochen Lempert und Farah Al Qasimi
Fast schon kontrapunktisch wirken die beiden weiteren neuen Ausstellungen im Amerika-Haus. Die ruhige, zurückgenommene und zarte Bildsprache von Jochen Lempert in seiner Schau „Lingering Sensations“ ist nachgerade meditativ. Wie Moriyama fängt auch der Hamburger Fotograf die Welt vorzugsweise in körnigem Schwarzweiß ein. Eine poetische Abstraktion der Natur und ihrer Vielfalt.
Wie gespenstisch der Alltag sein kann, erfährt man hingegen in Farah Al Qasimis Ausstellung „Poltergeist“. In ihren opulenten, vermeintlich freundlich bunten Fotos fängt die Medienkünstlerin abseitige Zwischentöne ein.