Fast jeder kennt das weiße Urinal: auf die Seite gekippt, mit der Signatur „R. Mutt, 1917“ versehen, „Fountain“ genannt, ein Schlüsselwerk der modernen Kunstgeschichte. Als Ready-made schreibt man es üblicherweise dem Franzosen Marcel Duchamp zu – es passt ja auch sehr gut in die machtvolle Tradition der Kunstgeschichtsschreibung, wonach Genius, Kreativität und die Fähigkeit zur disruptiven Innovation vor allem Männern zugeschrieben werden.
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Dass vermutlich eine Frau den entscheidenden Impuls für die „Fountain“ hatte, nämlich die mit Duchamp befreundete Elsa von Freytag-Loringhoven (1874-1927), macht immer noch nur als Hinweis unter Eingeweihten die Runde, so wie auch ihr aufregendes Leben und ihre künstlerische Arbeit erst in den letzten Jahren stärkere Beachtung erfahren.
Elsa von Freytag-Loringhoven: Ein Lieblingskind der New Yorker Kunstszene
Ihren eindrucksvollen Namen trug sie nicht von Geburt an, sie kam als Elsa Hildegard Plötz in Swinemünde als Tochter einer wohlhabenden Familie zur Welt. Die ersten Jahrzehnte ihres Lebens vergingen wie im Rausch im Umfeld von Künstlern in Berlin, Paris und New York. Elsa heiratete mehrmals und hatte unzählbar viele Affären, sie hatte Kontakt zu André Gide, H. G. Wells, Djuna Barnes, Ezra Pound, Ernest Hemingway, Man Ray und vielen anderen. In New York machte sie vor allem durch ihre selbst entworfenen, grellen Kostüme auf sich aufmerksam. „Ihr kurz geschnittenes Haar“, schreibt der Autor Dieter Wunderlich über sie, „lässt sie mitunter grell färben, sie schminkt die Lippen schwarz, klebt sich eine Briefmarke auf die Wange und führt auf der Straße fünf Hunde an einer vergoldeten Leine.“
Sie schrieb vielfach nachgedruckte Gedichte und galt als Ikone der Avantgarde, „the heart and soul of New York Dada“ sollte sie Andy Warhol später nennen. Vor drei Jahren widmete Siri Hustvedt ihr den Roman „Damals“. Und doch musste sie verarmt und verwitwet in den 1920er-Jahren nach Berlin zurückkehren, wo sie Zeitungen auf dem Kurfürstendamm austrug; niemand kannte sie hier. 1927 starb sie, nun wieder in Paris lebend, in ihrer Wohnung an einer Gasvergiftung, ob es sich um einen Suizid handelte.
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Was für ein Leben, und wie ignorant hierzulande mit ihm umgegangen wird. Ein klarer Fall für das deutsch-schweizerische Theaterkollektiv „Raum + Zeit“ um Bernhard Mikeska, das sich in den vergangenen Jahren immer wieder um die Lebens- und Schaffensgeschichten von Frauen verdient gemacht hat. In „Antigone :: Comeback“ (2018) konnte man sich in das kreative Ringen zwischen Helene Weigel und Bertolt Brecht hineinversetzen, in „Berlau :: Königreich der Geister“ (2022, ausgezeichnet mit dem Friedrich-Luft-Preis von Berliner Morgenpost und Deutschlandfunk Kultur) die Perspektive seiner langjährigen Geliebten und Arbeitspartnerin Ruth Berlau nachvollziehen. Mit der neuen Arbeit „All about Elsa“ verbindet beide Arbeiten, dass sie reale Spielszenen mit VR-Technologie verknüpfen und den Faden der Chronologie zugunsten einer traumhaft-assoziativen Collage zerschneiden.
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Diesmal findet sich das Publikum, das dem Geschehen erstmals nicht jeder für sich, sondern in der Gruppe folgen kann, in einer fiktiven Pop-up-Galerie in der Kreuzberger Fichtestraße wieder. Die Gäste sitzen auf kleinen Pappschemeln mit den VR-Brillen auf dem Schoß und warten auf weitere Anweisungen. Mit dominanter Strenge erscheint Schauspielerin Merle Wasmuth als Inhaberin Alessa Brones und stellt simple Fragen zur Biografie Elsa von Freytag-Loringhovens, die keiner beantworten kann. Man setzt die Brille auf und ist plötzlich allein in der Galerie, in deren hinterer Ecke ein Kleiderhaufen liegt – aus dem dann, ebenfalls verkörpert von Merle Wasmuth, Elsa hervorsteigt, bekleidet unter anderem mit einem aus zwei Blechdosen gebastelten BH. Sie charmiert, schreit herum, macht Witze, sie ist auf ungeheuer exaltierte Weise frei und ganz die Dada-Queen, von der Warhol sprach. Und natürlich ist sie auch immer noch ganz leibhaftig da, wenn man die Brille wieder abnimmt.
Wer den einnehmenden Effekt des Verschwimmens der Realitätsebenen bereits kennt, auch das tastende Vor- und Zurückspringen in den Lebenswegen, das keine Deutungshoheit beansprucht, sondern nur Perspektiven ausprobiert: der wird ihn hier erneut erleben können. Wer nicht, hat das Privileg, sich von ihm überraschen lassen zu dürfen. Zu entdecken sind eine große Künstlerin und ein kluger, neuer Weg, sie in Erinnerung zu rufen.