Er hatte keinen Berufsabschluss. 1914, mit 21 Jahren, gab er sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule Charlottenburg auf, um sich freiwillig zur Front im Ersten Weltkrieg zu melden. Womöglich war dieser Abbruch ja dem Mann, der 50 Jahre später wie kein weiterer das Bild des modernen Berlin prägte, in seiner Schöpfungskraft nur nützlich – und damit dem Bild Berlins auch. Vielleicht hätte ihm das brave Studium die „Flausen“ ausgetrieben, die Zipfel zum Beispiel, die Teil seines ganz eigenen Stils waren; seine vielfältigen Visionen, die heute fantastisch anmutende Entwürfe auf zehntausenden Stück Papier das Archiv der Berliner Akademie der Künste füllen. In die Sammlung des Surrealen hätten gut auch seine Entwürfe etwa der Berliner Philharmonie, der Staatsbibliothek, des Kammermusiksaals und manches andere gepasst. Wenn sie nicht ganz real gebaut worden wären, als wahrgewordene Visionen.
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Der Architekt Hans Scharoun, geboren 1893 in Bremerhaven, war nicht zuletzt auch Künstler. Er organisierte als 24-jähriger nach Kriegsschluss Ausstellungen der Künstlergruppe „Die Brücke“, wurde bald darauf Professor an der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe. Seine späte Kunst, ab den 60er-Jahren in Berlin zu plastischer Architektur gegossen, mit der man sein Werk vor allem in Verbindung bringt, am heutigen Kulturforum nahe dem Potsdamer Platz, war dann erstmal keineswegs unumstritten. Der „Spiegel“ spottete 1984 über die „vielzipfelige Philharmonie“, bezeichnete Scharouns Ensemble als „gebaute Kakophonie“, sein Instrumente-Museum gleich nebenan zusammen mit seinem geplanten Kammermusiksaal ebendort als „Tochtergeschwülste“ der Philharmonie. Scharoun insgesamt sei von „krautigem humanem Gedankengut geprägt“, urteilte das Nachrichtenmagazin. Will sagen: Künstler eben?
Mit 18 baute er Häuser und nahm an ersten Architektur-Wettbewerben teil
Der Meister der „Organischen Architektur“, der sich zeitweilig kaum mit rechten Winkeln anfreunden konnte und das Urstromtal der Spree als städtebauliches Muster für Berlin ansah, hatte es nach dem zweiten Krieg zunächst tatsächlich nicht leicht. Vor dem Bau der Philharmonie 1956 mussten sich die Menschen in der geteilten Stadt erst langsam wieder an den großen Architekten gewöhnen, in Ost wie in West, ein zweites Mal. Einen Namen hatte er da längst.
Schon mit 18, noch in der Schule, nahm Scharoun an Architekturwettbewerben teil. Im selben Alter beteiligte er sich an der Planung des renommierten Baumeisters Paul Kruchen für eine voluminöse Villa in Pankow. Kruchen wurde sein Mentor, rekrutierte den jungen Studienabbrecher dann gleich von der Front weg für ein Wiederaufbauprogramm Ostpreußens. Gleich 1919 übernahm Scharoun Kruchens Architekturbüro in Breslau, mit 25, ohne Abschluss, der auch nicht für die Berufung zu seiner ersten Professur in der schlesischen Hauptstadt nötig war. Er trat der expressionistischen Architektengruppe „Gläserne Kette“ von Bruno Taut bei, auch dem „Ring“ Ludwig Mies van der Rohes, näherte sich dem Werkbund an – allesamt Vereinigungen, die die Moderne der Weimarer Zeit prägten. Er baute bei deren Großprojekten mit wie der Stuttgarter Weißenhofsiedlung (1927). Oder bei der Großsiedlung Siemensstadt in Charlottenburg Nord (1929-1931), deren städtebauliches Konzept er verantwortete, und für die namhafte Architekten der Moderne wie Walter Gropius, Otto Bartning und andere die einzelnen Blöcke entwarfen.
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Sein Generalplan des Stadtteils mit dem Namen des Weltkonzerns verschaffte ihm auf einen Schlag internationale Berühmtheit. Auch einen einzelnen Block darin entwarf er, der für sein Werk richtungweisend wurde. Deutlicher noch als der Modernismus, dem er sich angeschlossen hatte und der sich in aller Regel unverspielt mit glatten Fassaden gab, tritt in diesem persönlichen Beitrag zur Siedlung bereits ein bald regelmäßiges Stilmittel des an der Waterkant Geborenen zutage: Seine architektonischen Anspielungen an den Schiffsbau, die dem Block gleich nach Fertigstellung den Spitznamen „Panzerkreuzer“ beibrachte. Relinge, Kommandobrücken treten dort aus den Außenwänden hervor. Daneben kleine Luken. Noch sind sie viereckig, erst später werden sie rund, in noch deutlicherer Assoziation zu Bullaugen, als sein persönliches Markenzeichen, auch in Innenwänden. Etwa in der Philharmonie oder, markanter noch, in seinem Riesendampfer nebenan, der Staatsbibliothek, seinem Spätwerk, in dem wir auch einem anderen aus Werften bekannten Element begegnen: den Oberlichtern. Bis dahin hatte Scharoun noch Durststrecken zu durchlaufen.
Hans Scharoun beschränkte sich zwischenzeitlich auf den Eigenheimbau
Anders als andere Architekten der Weimarer Moderne, die nach 1933 auswanderten, blieb Scharoun in Berlin, musste sich auf den privaten Eigenheimbau beschränken, der immerhin einige Meisterwerke hervorbrachte. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Aufträge ausblieben, widmete er sich wieder intensiv der utopischen Architekturzeichnung. Spektakuläre, aber kaum definierte Großbauten kamen dabei aufs Papier, manche pflanzengleich in die Wolken wachsend. Hatten die zerbombte Stadt seine Phantasie für neue unendliche Freiräume geweckt? Es scheint so.
Eine gute Woche nach Kriegsende gaben die Sowjets im neuen Magistrat Scharoun den Posten als Stadtbaurat, mit der Aufgabe, einen Generalplan für Berlin auszuarbeiten. Mitte 1946 stellte er diesen „Kollektivplan“ im Weißen Saal des lädierten Schlosses vor. Darin legte er – wie auch Le Corbusier – den Abriss der noch stehenden Gebäude zugrunde und einen radikalen Neuaufbau gemäß der Charta von Athen: Getrennte Viertel für Wohnen, Produzieren und Dienstleistungen, viel Grün und Verkehrsfläche dazwischen. In den Nöten der Zeit konnte sich im Rathaus mit seiner Radikalität im Osten kaum jemand anfreunden, man fremdelte. Obwohl er 1947 an der TU im Westen zum Professor für Städtebau berufen wurde, versuchte er noch gemeinsam mit Hermann Henselmann, in Ost-Berlin die Weimarer Moderne wiederzubeleben, doch die SED fand diese nun – auf Weisung aus Moskau – als bourgeois-dekadent, westlich eben. Ein Laubenganghaus, das Scharoun an der Stalinallee noch modernistisch bauen durfte, ließ die Partei zum Gefallen Stalins hinter schnellwachsenden Pappeln verstecken.
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Auch im Westen musste er auf den Erfolg warten. Zwar gewann der Professor nun in großen Wettbewerben fünfmal den ersten Preis mit seinen Entwürfen, doch keiner wurde gebaut. Erst die Philharmonie brachte ihm 1956 den Durchbruch. Ein spektakulärer Bau. Abgesehen vom „zipfeligen“ Äußeren, mit dem sich die Berliner erst schwertaten, war das Innere geradezu revolutionär: Ein Konzerthaus im Arena-Prinzip, mit dem Orchester in der Mitte. Wohl nur Scharouns Freundschaft mit dem Chef der Philharmoniker, Herbert von Karajan, sorgte dafür, dass der Bau 1956 beginnen konnte. Anfängliche Akzeptanzprobleme lagen auch am Standort: zwar mitten im alten Zentrum, zu Mauerzeiten aber zunächst in einer Wüstenei, in der vor allem der Massenverkehr der Entlastungsstraße dominierte. Und mit gebührendem Abstand zur Neuen Nationalgalerie seines alten Kollegen Mies, ganz im Gegensatz zu seinem Bau der Inbegriff des Rechten Winkels und der Glasfronten – ein Spannungsbogen, in dem sich bald das Kulturforum ausbreitete, unter Dominanz Scharouns, jedenfalls seines Namens und seiner glänzenden goldeloxierten Aluminiumplättchen an den Fassaden.
Am Ende war er hauptsächlich als Phantom-Architekt unterwegs
Gegen Ende seines Lebens kam in Berlin noch ein erkleckliches Volumen an Scharoun-Bauten zusammen. Einerseits große, stilistisch eher unscheinbare Hochhäuser, zum Wohnen wie am Reinickendorfer Zabel-Krüger-Damm oder am Komplex rings um den Mehringplatz, auch für Büros wie im AOK-Haus dort gleich nebenan. Andererseits markante Schiffsbau-Stilistik wie eben die Staatsbibliothek („Stabi“) oder weitere „zipfelige“, wie der Kammermusiksaal, auch das Musikinstrumenten-Museum. Vielfach war er dabei allerdings nur mehr als Phantom-Baumeister unterwegs, weil andere – vor allem sein enger Mitarbeiter Edgar Wisniewski – kurz vor oder auch lange nach seinem Tod Scharouns künstlerische Skizzen in baureife Entwürfe verwandeln mussten. Die harsche Kritik, wie sie der Spiegel meinte, stellvertretend für die Berliner äußern zu müssen, war da längst verstummt. Scharoun war in Berlin zur anerkanntesten Kapazität des Berufsstandes mit der Fliege avanciert. Im November 1972 starb er. „Hauptsache Bewegung“ sollen seine letzten Worte gewesen sein.