Regisseurin Leonie Böhm hat schon oft Gespür bei der Aktualisierung von Klassikern bewiesen. Ihr jüngster Abend macht ratlos.

Bereits in einigen ihrer Inszenierungen hat Regisseurin Leonie Böhm antike tragische Stoffe auf ihre Essenzen hin destilliert und zu Theaterabenden geformt, die in heutiger Sprache alte Probleme noch relevant verhandelten. Ihre „Medea“-Adaption von Euripides wurde 2020 zum Theatertreffen eingeladen, vor einem Jahr beschäftigte sich Böhm in Basel mit Antigones Vater Ödipus. Allerdings hieß der Abend dann „Teiresias“, nach dem blinden Seher, der auch in ihrer jetzigen „Antigone“ am Maxim Gorki Theater einen Auftritt hätte haben können. Hat er aber nicht.

Denn dieser Abend mit dem Titel „Antigone“ hat nichts mehr mit „Antigone“ zu tun. Wo es bei Sophokles um den Bedeutungskonflikt zweier Machtinstanzen, dem göttlichen (familiären) und dem menschlichen (staatlichen) Gesetz, um die Geltung von Mann (Staat) und Frau (Familie) und die Anerkennung eigenen Verfehlens im Leid geht, geht es in den 13 Seiten Text, die Leonie Böhm mit dem Ensemble in Probenlektüren exegiert hat, höchstens um Selbstmitleid.

Ein beliebtes Schimpfwort fällt ausgesprochen häufig

Es fängt schon so an. In den ersten 20-mal so langen zehn Minuten improvisieren vier Schauspielerinnen über ihr Innenleben. Sie sprechen nicht, doch kommt ihre Performance über Varianten des Austauschs von Spucke nicht hinaus. Die Spucke hat einige Szenen, abgelöst von viel Fangospritzerei (Achtung in den ersten Reihen) und achtzehnmal „Scheiße“. Hätte es regelmäßige Auftritte, käme dieses Wort im Verlauf des Abends rund alle fünf Minuten einmal, braucht aber sein Echo, deshalb fällt es allein in den letzten fünf Minuten sieben Mal.

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Keine Angst vor Fäkalsprache: Eva Löbau, Lea Draeger, Fritzi Ernst, Julia Riedler und Çiğdem Teke.
Keine Angst vor Fäkalsprache: Eva Löbau, Lea Draeger, Fritzi Ernst, Julia Riedler und Çiğdem Teke. © Maifoto | Ute Langkafel

Dazwischen widmen sich die Spielerinnen mit ihrem Text und aufgesetzten Improvisationen einer schwer nachvollziehbaren Antigone-Analyse: dass es in dem Stück um Scham ginge, „Angst, Scham, Schande, Schmerz“, und darum, wie Befreiung von ihr möglich wäre. Spucke und Scheiße sind also die Innerlichkeiten, die raus müssen für die Befreiung. Wovon? Egal. Emanzipation ist, endlich auch mal auszuspucken, „die Scham soll raus.“ Ganz schön 90er. Wir waren schon mal weiter.

Einzelne Gäste im Publikum werden direkt angesprochen

Die Methode dazu ist selbst eine Analyse, indes nur nabelschauende Psychoanalyse, selbstreferenzielle Selbstbeschäftigung. Insofern ist der Abend ein Spiegelbild der Zeit. Jede der vier Antigones leidet an ihrer eigenen narzisstischen Störung, hat ihr eigenes Problem („Es sind doch die Eltern!“), ihren eigenen Therapiemonolog. Unterbrochen von Liedern mit Kindermelodien (Musik Fritzi Ernst), veräußert die jeweilige Sprecherin (oder Schreierin, Julia Riedler) ihre Autoanalyse mal verbaler (Çiğdem Teke), mal körperlicher (Eva Löbau) und wird dabei von den anderen gruppentherapeutisch gestützt. Drei Patientinnen erhoffen sich Therapieerfolg durch innere und äußere Entblößung, nur Lea Draeger bleibt schamverhaftet angezogen.

Dass mehrfach auch das Publikum beschämt wird, einzelne direkt angesprochen und nicht aus der Situation gelassen werden, zeigt den blinden Fleck des Abends: über Macht, ihre Legitimität und Bedeutung nicht sprechen zu können, sie aber unbewusst auszuüben.

Gorki, Am Festungsgraben 2, Mitte. Nächste Vorstellung: 14.5., 19.30 Uhr.