Staatsballett Berlin

Christian Spuck: Manchmal fühlt man sich schrecklich einsam

| Lesedauer: 10 Minuten
Volker Blech
Christian Spuck in den Räumen des Staatsballetts Berlin.

Christian Spuck in den Räumen des Staatsballetts Berlin.

Foto: Jörg Krauthöfer / FUNKE Foto Services

Choreograph Christian Spuck über seine Verdi-Premiere beim Staatsballett, über Machtstrukturen in Compagnien und den „Hundekot“-Skandal.

Der Choreograph Christian Spuck wird als Intendant im Sommer das Staatsballett Berlin übernehmen. Noch leitet der 53-Jährige das Ballett Zürich. Am Freitag wird seine bereits in Zürich gefeierte Verdi-Produktion „Messa da Requiem“ in der Deutschen Oper Berlin als Neueinstudierung mit dem Staatsballett Premiere haben.

Herr Spuck, in Berlin hatten Sie jetzt Ihre erste große Probenphase mit Ihren neuen Tänzern. Wie lief es mit dem Staatsballett?

Christian Spuck Die Choreographie für Verdis Messa da Requiem ist bereits in Zürich entstanden. Das Staatsballett musste das Material zunächst einmal lernen. In meinen ersten Probentagen habe ich versucht, es an die neuen Tänzer:innen anzupassen. Ich wollte ihnen eine Form geben, in der sie sich wohl fühlen und präsentieren können. Ich genieße die Proben sehr, die Tänzer:innen sind fantastisch. Wir wollen auch schnell eine weitere Besetzung herausbringen. Es sind wirklich alle Tänzer:innen gefordert.

Bei Ihrer ersten Pressekonferenz zur ersten Spielzeit wurde öffentlich, dass Sie mit Amtsantritt 22 Stellen neu besetzen. Wie gehen Sie jetzt mit den ausscheidenden Ensemblemitgliedern um? Belastet es die Probenstimmung?

Die Entscheidung, sich von Künstler:innen zu trennen, ist immer schwierig: Aber es ist keine Entscheidung gegen einen Menschen, wenn man beschließt, künftig nicht mehr beruflich miteinander umgehen zu wollen. In der Premierenbesetzung sind nicht viele der ausscheidenden Tänzer:innen mit dabei, aber ich arbeite mit ihnen genauso intensiv wie mit allen anderen. Und ich spüre, sie geben alles. Es gibt keine schlechte Stimmung, oder ich nehme sie nicht wahr. Mir ist es immer wichtig, dass die Künstler:innen die Proben genießen. Es geht um eine Form des Teilens.

Dennoch sind Neuanfänge für eine Compagnie nie einfach?

Ich wurde auch einmal nicht verlängert wegen eines Intendantenwechsels. Ich weiß, was das bedeutet. Es ist schmerzhaft, weil es eine Ablehnung ist. Bei mir gab es damals nicht mal ein Gespräch. Mir wurde über die Sekretärin ausgerichtet, dass die Antwort nein ist. Deswegen habe ich mir jetzt beim Staatsballett so viele Proben wie möglich angeschaut, es waren sicherlich 70 Trainings oder Proben und rund 40 Vorstellungen. Es gab viele Gespräche. Man muss Neuanfänge von zwei Seiten betrachten. Was kann die Tänzer:in für die künftige Vision des Staatsballetts beitragen? Und was kann ich für die zukünftige Karriere des Künstlers tun? Es macht keinen Sinn, wenn eine Karriere stagniert. Es gibt einige Künstler:innen, die relativ früh gegangen sind und anderswo bereits tolle Positionen bekommen haben. Es geht also nicht nur um meine Perspektive.

Das Staatsballett musste in den vergangenen Jahren Konflikte in Arbeitsstreiks, Rassismusvorwürfe rund um „Schwanensee“ oder auch die Kolonialismusdebatte um den „Nussknacker“ austragen. Wie wollen Sie mit diesen Konflikten umgehen?

Die Gesellschaft verändert sich momentan. Das spürt man auch in einer Compagnie mit vielen jungen Menschen, die anders denken und andere Wertigkeiten entwickeln. Dass beim Staatsballett bestimmte Fragestellungen in Konfliktform aufgetreten sind, ist bedauerlich. Ich möchte in Zukunft solche Konflikte vermeiden. Themen wie Repräsentation in postkolonialen Zeiten sind wichtig, es findet gerade eine Aufarbeitung statt. Diskriminierung und Machtmissbrauch ist momentan ein ganz großes Thema, in der Schweiz findet es gerade in Ballettschulen statt. Die Schule in Basel wird wahrscheinlich geschlossen.

Dem Thema Machtmissbrauch muss sich jeder Intendant stellen?

Ganz klar ist: Beim Staatsballett Berlin haben Machtmissbrauch und Diskriminierung keinen Platz. Ich nehme selber momentan an vielen Schulungen teil. Ich bin überzeugt, einer der tolerantesten Menschen zu sein, musste aber feststellen, dass ich – ohne es zu wissen – manchmal diskriminierend sein kann. Ich habe eine andere Sozialisation erlebt, die in der heutigen Gesellschaft reflektiert werden muss. Auch ich muss an mir arbeiten. Ich möchte, dass die großen gesellschaftlichen Themen, die beim Staatsballett aufkochen, nicht als Konflikt, sondern als Lernprozess stattfinden. Gute Kommunikation ist mir sehr wichtig.

Letztendlich müssen Sie als Intendant entscheiden, wer geht und wer bleibt? Oder bereiten Sie auch kollektivere Modelle vor?

Ich fälle keine Entscheidung alleine. Aber ich bin alleine verantwortlich für eine getroffene Entscheidung. Ich führe sehr viele Gespräche und entscheide fast immer im Team. Ich tue das auch, weil man sich als Direktor manchmal schrecklich einsam fühlt und oft in seiner Wahrnehmung limitiert ist. Ob es eine sinnvolle Möglichkeit ist, das Ensemble mehr entscheiden zu lassen, das kann ich im Moment nicht sagen. Ich denke, man kann vieles gemeinsam entscheiden. Aber es gibt Bereiche in einem Betrieb, etwa die Gehaltsstrukturen oder künstlerische Entscheidungen, da wird es schwierig, ein Kollektiv entscheiden zu lassen. Und wie wir es im Sommer bei der documenta, der bedeutendsten Ausstellung für moderne Kunst in Kassel, erlebt haben, kann bei Künstlerkollektiven manches in die falsche Richtung gehen. Dann muss irgendjemand auch Verantwortung übernehmen.

Wenn man an die alte russische Ballettschule denkt, dann fallen einem strenge Strukturen und Probenhärte ein. Ist das heute überhaupt noch umsetzbar?

Ich habe während der Corona-Zeit neun Wochen am Bolschoi in Moskau gearbeitet. Dort habe ich mit „Orlando“ eine große Produktion choreographiert. Ich habe eine Ballettwelt erlebt, von der ich glaubte, dass sie gar nicht mehr existiert. Es war zum Teil erschütternd, was ich erlebt habe. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Compagnien in den 1960er- und 1970er-Jahren in Europa ähnlich geführt wurden. Bis in die 80er-Jahre hinein kannte ich Ballettcompagnie, die sehr diktatorisch geführt wurden.

Wie werden Sie mit den umstrittenen Werken wie dem „Nussknacker“ umgehen?

Aus einer postkolonialen Perspektive muss man sich die Werke genau anschauen. Den „Schwanensee“, den ich hier erlebt habe, halte ich für unproblematisch. Was den „Nussknacker“ betrifft, habe ich mir die Produktion nicht live anschauen können. Das Video werde ich mir demnächst anschauen. Ich habe selber einen „Nussknacker“ gemacht und weiß, dass man diese Problematik umgehen kann. Was man in einer klassischen Inszenierung sieht, sind Petipas Fantasievorstellungen von anderen Ländern, die er selber nicht bereist hatte. Es gibt Menschen, die sich heute von der Darstellung der Nationaltänze verletzt fühlen. Das muss man diskutieren. Möglicherweise wird man das mit einem Begleitprogramm auffangen. In Oslo tritt die Direktorin vor jeder Vorstellung vors Publikum und erklärt die Situation, damit sich keiner angegriffen fühlt.

Bleibt der Opernregisseur jetzt auf der Strecke hinter der großen Ballettcompagnie?

Ich habe mich nie als Opernregisseur gesehen. Ich habe mich aber gefreut, wenn mich große Opernhäuser für Regiearbeiten angefragt haben. Im Moment möchte ich alle meine Energie dem Staatsballett widmen. Das ist meine Leidenschaft. Es gibt aber bereits Gespräche über Koproduktionen zwischen Oper und Ballett. Wir haben in Berlin die Möglichkeit, mit drei Opernhäusern zusammen zu arbeiten. Da wird es sicherlich irgendwann etwas geben.

Wie haben Sie unter Kollegen wahrgenommen, dass Marco Goecke in Hannover einer Ballettkritikerin Hundekot ins Gesicht geschmiert hat?

Die Tat war absolut nicht in Ordnung. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber ich sehe das nicht als Angriff auf die Pressefreiheit. Ich kann am eigenen Leib nachempfinden, dass nichtkonstruktive Kritik extrem verletzend sein kann. Es ist eine Form von Machtmissbrauch. Konstruktive Kritik ist hingegen in der Öffentlichkeit absolut wichtig, auch für mich als Künstler. Außerdem muss man trennen zwischen dieser Tat und dem Werk des Künstlers. Man bestraft im Endeffekt das Publikum und die Künstler, wenn man die Werke von Marco Goecke nicht mehr spielt.

Haben Sie mit Marco Goecke über den Vorfall gesprochen?

Wir sind in Kontakt, denn ich bin seit über 20 Jahren mit ihm sehr eng befreundet. Momentan ist die Zeit des öffentlichen Diskurses. Der fand am Anfang sehr laut, aber auch sehr einseitig statt. Mittlerweile wird er ironisch oder aus anderen Perspektiven geführt. Dann geht es um das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik. In der Zukunft, hoffe ich, wird es wieder möglich sein, dass Häuser neue Aufträge an den Choreographen vergeben.

Verdis Requiem folgt der Liturgie, ist aber für den Konzertsaal komponiert. Viele halten es fast für eine Oper. Waren Sie nicht eher als Opernregisseur herausgefordert?

Nein, ich war als Choreograph herausgefordert, weil der Auftrag lautete, eine Koproduktion zwischen Ballett und dem Opernensemble zu machen. Für die Sänger:innen existierten die Musik und der Text bereits, für die Tänzer:innen musste alles erst kreiert werden. Es ist eine katholische Liturgie, aber genau genommen hat sich Verdi weit davon befreit. Das Sanctus zum Beispiel, was in vertonten Messen eher die getragene Heiligsprechung ist, wird bei Verdi sehr fröhlich gesungen. Das hat etwas Ironisches, und er sucht das Menschliche darin.