Um das „Theater des Volkes“ der Nazis geht es im ersten Teil „Dein Tänzer ist der Tod“ der neuen Geschichte des Friedrichstadt-Palasts.
Alte Fotos vom Friedrichstadt-Palast können auf den ersten Blick verwirren, denn die Außenfassade als auch der Innensaal sehen völlig anders aus. Erst 1984 war das neu erbaute, moderne Revue-Theater an der Friedrichstraße eröffnet worden, vorher fand die wechselhafte Geschichte an einem anderen Standort (neben dem heutigen Berliner Ensemble) statt. „Dein Tänzer ist der Tod“ heißt das von Sabine Schneller und Guido Herrmann herausgegebene, großartige Buch über das Berliner „Theater des Volkes“ im Nationalsozialismus. Es ist der erste Teil einer Publikation zur Geschichte des Friedrichstadt-Palastes. Es wird am Ende ein dreiteiliges Standardwerk auch über die Geschichte der Unterhaltungsmusik in Berlin mit all den politischen Verwicklungen und handelnden Personen sein.
Das 1919 vom jüdischen Theatergenie Max Reinhardt gegründete Große Schauspielhaus war 1934 von den Nazis in „Theater des Volkes“ umbenannt worden und Joseph Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sowie dem Freizeitwerk „Kraft durch Freude“ (KdF) direkt unterstellt worden. Bis 1944 war das Haus die größte Propagandabühne des Dritten Reiches. Erzählt wird im Buch eine Geschichte von internen Machtkämpfen und Denunziantentum, von Tätern und Mitläufern und von der Lust, jenseits aller Widrigkeiten große Unterhaltungskunst machen zu wollen. Das Vorzeige-Theater der Nazis ging im Zweiten Weltkrieg unter. Erst 1947 erhielt das alte Haus seinen heutigen Namen: Friedrichstadt-Palast.

Die Herausgeber haben nicht nur künstlerische Entwicklungen, große Produktionen und Starkünstler aufgelistet, sondern auch viele schmutzige Töpfe der Zeit aufgemacht und tief hingeschaut. Das ist bemerkenswert, birgt aber die Gefahr, manchmal die Distanz zu verlieren. Anführungsstrichelchen reichen nicht immer aus. Das Buch hinterlässt Unbehagen, wenn sich etwa auf Seite 72 eine antisemitische Karikatur aus der Satirezeitschrift „Kladderadatsch“ vom 18. Februar 1934 abgedruckt findet. Damit wurde, so heißt es, der „Theaterskandal um die Rotterbrüder propagandistisch“ ausgeschlachtet. Die Nazi-Karikatur zeigt linkerseits auf hässlichste Weise, wie die angeblich raffgierigen jüdischen Privattheaterbetreiber der „Direktion Rotter“ 1932 in die Kasse greifen. Rechterseits ist das hehre Modell von „Kraft durch Freude“ 1934 dargestellt. Die Karikatur ist die falsche Bebilderung.
Die tragische Geschichte der Brüder Fritz und Alfred Rotter
Dabei steht die tragische Geschichte der Brüder Fritz und Alfred Rotter, die zu den erfolgreichsten Berliner Theaterdirektoren der Weimarer Republik gehörten, symptomatisch dafür, wie rassistisch und mörderisch die Nazis bereits in Übernahmezeiten auch im Kulturbetrieb vorgingen. Die beiden Direktoren hatten sich in den Krisen der Weimarer Republik mit ihrem verschachtelten Theater-Konzern überhoben. Als Pächter besaßen sie wegen mehrerer laufender Konkursverfahren seit Mitte Januar 1933 keinen direkten Zugriff mehr auf die Bühnen. Bald schon begannen Nazi-Treue mit der Übernahme. Die beiden Brüder wurden im April 1934 in Liechtenstein gejagt. „Bei einer Verfolgungsjagd mit Schusswaffeneinsatz kamen Alfred Rotter und seine Frau zu Tode“, heißt es im Buch. „Fritz Rotter konnte schwer verletzt fliehen und verstarb 1938/39 verarmt und unter ungeklärten Umständen in Frankreich.“

Im Buch wird auch die Frühgeschichte der gescheiterten Markthalle und des „Circus Schumann“ behandelt. Albert Schumann galt als führender „Pädagoge der Pferdebeeinflussung“, lernt man. Es gab Pferdedressuren und Hausclowns zu sehen, Radsportstars lieferten sich in der Arena dramatische Rennen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs zerbrach das Geschäftsmodell, weil die Pferde für die Kavallerie requiriert wurden. Max Reinhard wollte Schauspielkunst für alle bieten, denn im Kaiserreich konnte sich grundsätzlich nur das wohlhabende Publikum einen Theaterbesuch leisten.
So war es kein Zufall, dass Reinhardt den Circus Schumann bereits 1910 als Aufführungsort für seinen „König Oedipus“ wählte, die erste Theaterproduktion der Neuzeit, die sich an ein Massenpublikum richtete. In der Titelrolle spielte Paul Wegener. Aber man lernt aus der Frühzeit des Friedrichstadt-Palastes auch, dass das zahlende Publikum immer launisch war und etwas Neues wollte. Es erklärte die wechselnden Moden, die Auf- und Abstiege von Künstlern und regelmäßigen Theaterkrisen.
"Im weißen Rössl" machte 1930 weltweit Furore
Die im Buch erzählte Vorgeschichte ist für den heutigen Friedrichstadt-Palast wichtig, weil jedes Theater seine Identifikationsfiguren braucht. Dazu zählt Erik Charell, der eigentlich Erich Karl Loewenberg hieß, ein Tänzer und Choreograph, der als Assistent Reinhardts in den USA die Broadwayshows kennengelernt hatte. Er übernahm 1924 die Leitung des Großen Schauspielhauses und kreierte Revuen nach amerikanischem Vorbild, kombiniert mit Berliner Witz. Bereits die erste Premiere der Revue „An Alle!“ trug ihm den Ruf eines „Revuekönigs“ ein. Weltweit Furore machte seine letzte Schau „Im weißen Rössl“ 1930. Er emigrierte später in die USA.
Überaus lesenswert ist das Kapitel „Fazit und Ausblick“, weil es versucht, Lebensgeschichten von Beteiligten nachzuzeichnen. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und der Chef der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, begingen Suizid. Operettenkönig Paul Lincke hatte nicht nur die „Berliner Luft“ komponiert, sondern 1933 auch den Marsch „Unsere braunen Jungens“, der zum Repertoire der SS-Leibstandarte Adolf Hitlers gehörte. Lincke starb 1946 hochgeehrt und hochbetagt. Schauspielstar Heinrich George, der in Propaganda-Filmen wie „Jud Süß“ mitgespielt hatte, kam 1946 nach einer Blinddarmoperation im sowjetischen Speziallager Sachsenhausen zu Tode. Aber resümierend heißt es im Buch: „Viele der Künstler:innen prägten das Kulturleben der Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten.“