Grips Theater

„Linie 1“: Rückkehr ins West-Berlin der 1980er-Jahre

| Lesedauer: 5 Minuten
Elena Philipp
Die Berliner Szene in der Neuinszenierung von Volker Ludwigs musikalischer Revue „Linie 1“ am Grips Theater.

Die Berliner Szene in der Neuinszenierung von Volker Ludwigs musikalischer Revue „Linie 1“ am Grips Theater.

Foto: fotojournalist david baltzer / david baltzer / bildbuehne.de

Die Revue „Linie 1“ ist eines der berühmtesten Berlin-Stücke. Am Grips-Theater wurde es jetzt vorsichtig modernisiert.

Für erfolgreiche Musicals ist die Zahl üblich, für eine Inszenierung, die an einem Kinder- und Jugendtheater im Abendspielplan entstand, ist sie überwältigend: 1969 Mal wurde die musikalische Revue „Linie 1“ des Grips Theaters gespielt. International erfolgreich ist die ikonische Geschichte über das Mädchen, das nach West-Berlin ausreißt und in der U1 zwischen Zoo und Kreuzberg den unterschiedlichsten Menschen begegnet: Punkern, Angestellten, Obdachlosen, Arbeitern, Familien. Eine einzigartige Mischung, wie es sie nur im Insel-Biotop gab: Bei der Premiere 1986 war Berlin noch die „einzige Stadt auf der Welt / Wo in allen Richtungen Osten ist“, wie es im „Berlin-Lied“ heißt.

„Linie 1“ ist Kult – und hat als Kassenschlager das Grips über finanzknappe Zeiten getragen. Getextet hat Volker Ludwig, Grips-Gründer und Autor für Kabarett wie junges Publikum. Im Juni wird er 85 Jahre alt. Die Songs, dem deutschen Musikgedächtnis tief eingraviert, stammen von Grips-Komponisten Birger Heymann, der, ebenso wie der Uraufführungs-Regisseur Wolfgang Kolneder, bereits verstorben ist. Ihre Rechte gilt es zu wahren, und doch bleibt die Zeit nicht stehen. Vergangenes Jahr hat das Grips beim Theaterregisseur Tim Egloff eine Neuinszenierung bestellt. Einen „frischen Blick“ auf die 1980er-Jahre wolle man wagen, sagt Grips-Leiter Philipp Harpain vor der Premiere.

Besonders die jungen Ensemblemitglieder, die nicht mit zig der 90 Rollen verwachsen sind, taten sich schwer mit Song- und Textzeilen, die heute sexistisch und rassistisch klingen, auch wenn immer die Figuren aus ihrem Weltverständnis heraus sprechen. Da wird nicht nur das Gegenüber in der U-Bahn tagträumerisch „gefickt“, da gelten türkische Eheleute – man sollte es eigentlich nicht wiederholen – als „Kanacken“, die sich „Kindergeld zusammenrammeln“. Und manch ältere Herrschaft wünscht sich 40 Jahre nach Kriegsende den Führer wieder. Nur nicht Hermann, den Dietrich „Lemmi“ Lehmann, 82 Jahre alt, sagenhafterweise seit 1986 in allen Vorstellungen gespielt hat. Er nennt Trude vom Imbiss „Frau Gertrud“ und überzeugt die Hauptfigur, dass das Leben lohnenswert ist. Denn „Linie 1“ bremst nicht vor den Abgründen: Es geht um Suizid, Sucht, Einsamkeit, Geldnot und gesellschaftliche Verwerfungen.

Bei der Neufassung waren keine Bilderstürmer am Werk

Umgeschrieben werden durfte nichts, gegen Änderungen von Text und Komposition verwahrte sich Volker Ludwig. „Gespalten“ seien seine Gefühle, sagt der hoch verdiente Theatermacher auf Nachfrage. Bei der Premiere sitzt er in Reihe 3. Die 1986er-Inszenierung hätte man aus seiner Sicht nicht verändern müssen. Aber das neue Team sei toll. In den Pressematerialien zur neuen Fassung klingt er versöhnlich: „Es sind keine Bilderstürmer am Werk, der Geist bleibt erhalten“.

Die 2023er-Besetzung feilte also an der „Haltung“, mit der die „Typen-Revue“ erzählt wird. Das Mädchen – gespielt von Helena Charlotte Sigal, die neulich dem Fernseh-Moderator Joko Winterscheidt als erster Publikumsgast seine Show gestohlen hat –, trägt jetzt einen Namen. Natalie ist nicht mehr das rehäugige Provinzgewächs, das staunend durch die Großstadt trudelt, sondern eine herzensoffene, wache Person, die mit allen mitfühlt. Außer mit den Männern, die ihr blöd kommen, wie etwa „Linie 1“-Urgestein Jens Modalski als herrlich verklemmter „Anmacher“-Hippie in Sandalen.

Eine Betonung kann den Sinn einer Aussage verändern, und so klingen die schwül-erotischen Phantasien im Song „Gegenüber“ jetzt anders – wie etwas Peinliches, das unwillentlich aus dem Unterbewusstsein drängt. Lautstark ausgetragene Konflikte sind auch heute Alltag in den Öffis, und es mag kaum noch Wilmersdorfer Witwen geben, die die Pensionen ihrer Nazi-Männer in Schwarzwälder Kirschtorte anlegen, aber die „braune Schmeißfliege“ ist mitnichten eine ausgestorbene Gattung.

Die Songs wurde neu arrangiert und 200 Looks entworfen

Gecancelt wird hier also nichts. Wer allerdings, wie angekündigt, eine Neuinszenierung erwartet, wird enttäuscht. Es wurde gemalert, nicht die Wand eingerissen: Die Grips-Band No Ticket, die fast noch in Urbesetzung spielt, hat die Songs neu arrangiert, die Bühne ist entschlackt und Mascha Schubert hat mit dem Grips-Kostümteam rund 200 neue Looks entworfen. Lederblousons, Karottenhosen, breite Gürtel, Vokuhilas – das sieht nach 80ern aus und schmeckt zugleich zeitgenössisch.

Fans werden auf die Reise mitgenommen: Und alle, mit denen man am Rande der Premiere spricht, haben eine eigene Geschichte mit dem U-Bahn-Stück. Sie sind im Hansaviertel aufgewachsen und kennen die Inszenierung aus der Schulzeit; der Ehemann spielt seit zwölf Jahren den pfiffigen Alki Schlucki; „Linie 1“ muss sein, zweimal im Jahr mindestens. Wobei letztgenannte Besucher, ein Paar in Reihe 1, noch unschlüssig sind, wie sie die renovierte Fassung finden. „Abgewaschen“ erscheint ihm die Neuversion, ohne die gesellschaftspolitische Tiefe. Sie wird zu ihrem Geburtstag kommende Woche trotzdem gleich wieder eine Vorstellung besuchen. „Linie 1“ muss sein.

Grips Theater, Altonaer Str. 22, Hansaviertel. Tel. 3974 7477 Termine: 1.-3., 5./6. und 29./30. April