Lang erwartet und dringend nötig ist der Intendanzwechsel am Staatsballett Berlin. Christian Spuck, der Deutschlands größte Ballett-Compagnie ab der Spielzeit 2023/24 leitet, stellte sich mit seinem Team nun in einer Pressekonferenz an der Deutschen Oper vor. Präsent und bestens vorbereitet wirkt er, fokussiert auf die neue Aufgabe, die er begleitend zu seiner derzeitigen Intendanz am Ballett Zürich in den vergangenen eineinhalb Jahren vorbereitet hat. Solide durchchoreographiert wirkt der Auftritt. Und Stetigkeit tut Not, nachdem das Experiment der Co-Intendanz von Berlins Star-Choreographin Sasha Waltz mit Johannes Öhman krachend scheiterte.
Durch die Corona-Zeit steuerte als Kommissarische Intendantin Christiane Theobald die Geschicke der Kompanie, sie brachte einige verdiente Projekte zur Premiere, hat nun, nach mehr als 35 Jahren im Berliner Ballettbetrieb, aber auch den Ruhestand verdient. Christian Spuck lobt ihre Unterstützung – er habe auch schon andere, weniger produktive Übergaben erlebt.
Reibungslos wirkt der Wechsel an der Spitze. Und wie steht es um das künstlerische Programm? Ein Intendanz-Auftakt wirkt ja auch immer symbolisch. Und was kann man sagen: Künstlerisch ist solide Qualität zu erwarten. Christian Spuck setzt auf bewährte Kräfte.
William Forsythe wird mit dem Ensemble drei Stücke einstudieren
William Forsythe, der Erneuerer des Balletts, kommt selbst nach Berlin, um mit dem Ensemble drei seiner Stücke einzustudieren. Ein Fest und eine Herausforderung für die Tänzer, ein Geschenk ans Publikum. Ein Wiedersehen gibt es auch mit Sharon Eyal. Ihr „Half Life“ hat sich zu einem Signaturstück des Staatsballett entwickelt, schlägt es doch die Brücke zwischen zeitgenössischem Ballett und Berlins Clubkultur. Hier gibt es keine Solist:innen – ein perfektes Stück, um ein Ensemble zusammenzuschweißen, was Christian Spuck mehrfach als eines seiner wesentlichen Anliegen benennt. Und so bleibt „Half Life“ im Repertoire. Eyals neue Arbeit, „2 Chapter Love“, kommt im Dezember 2023 in einem Doppel mit Sol Léons „Stars Like Moths“ auf die Bühne der Staatsoper Unter den Linden.
Überraschender ist die Wahl des Artist in Residence, der das Staatsballett zwei, drei Jahre begleiten wird – da will man sich noch nicht festlegen. Marcos Morau ist in Berlin kein Unbekannter. Der Spanier gastierte 2014 mit „Siena“ seiner eigenen Compagnie La Veronal erstmals beim internationalen Festival „Tanz im August“ an der Schaubühne. Dreimal kam er wieder, zuletzt 2022 mit „Sonoma“ ans Haus der Berliner Festspiele. Seine Arbeiten haben Fans, im Publikum und in der Presse. Morau ist ein Breitwandkünstler, der in Bildern denkt, cinematisch, knallig wie ein 60er-Jahre-Lollipop, gepaart mit einem kräftigen Schuss Surrealismus und einem Hauch Albtraumlogik.
Ob man diese bunten, bildnerischen Panoptiken über den Status des Menschen als Geniestreiche feiert oder für Kunstgewerbe hält, ist Geschmackssache. Frappierend ist vielmehr, dass das Staatsballett einen Künstler ans Haus holt, der weder ausgebildeter Tänzer noch Choreograph ist. Was man sich von seiner Bewegungssprache für das Ensemble erwartet, bleibt offen. Aufregender als Moraus Uraufführung, zu der auch im stylisch farbreduzierten Programmbuch noch nichts Näheres zu erfahren ist, wirkt ihre Paarung mit „Angels’ Atlas“ der Forsythe-Schülerin und international renommierten Choreographin Crystal Pite.
Christian Spuck steuert als eigenen Beitrag „Bovary“ nach Gustave Flaubert bei
Vier neue Abende: Fehlt noch Christian Spucks eigener Beitrag, der den Premierenreigen im Oktober eröffnet. Mit „Bovary“ erkundet der Intendant, inspiriert von Gustave Flauberts Roman, Fragen weiblicher Selbstbestimmung und fatalen Wunschdenkens. Ein Blick zurück in die Kulturgeschichte – aber im Staatsballett-Programm bleibt die Klassik kursorisch: Nurmehr „Dornröschen“ von Marcia Haydée, bei der Spuck am Stuttgarter Ballett selbst noch getanzt hat, und Patrice Barts „Giselle“ bleiben im Repertoire. Eine „Nussknacker“-Wiederaufnahme werde geprüft. Von „Schwanensee“ oder „Onegin“, wichtigen Produktionen des Staatsballetts, ist nicht die Rede.
Christian Spuck, so der Eindruck, fährt einen mittleren Kurs: Mehr Modernes wagen, ohne allzu experimentell zu werden, aber auch ohne die Klassik über Bord zu werfen. Auffällig ist bei der Pressekonferenz dann noch eine Leerstelle: die künstlerische Qualität der Tänzerinnen und Tänzer. Rund ein Viertel des Ensembles wird ausgetauscht, 22 neue Mitarbeiter:innen kommen ans Haus. Ein üblicher Vorgang bei einem Intendanzwechsel, und es ist angenehm, dass Spuck dem Ensemble Zeit geben möchte, zusammenzufinden.
Aber während er Elogen auf die Choreographen hält, hat er kein Wort des Lobes für das Ensemble. Eher klingt es, als müsste es sich anstrengen, die neuen Produktionen qualitativ „auf höchster Ebene zu präsentieren“. Ausgedünnt hat er die Ränge der Ersten Solisten: Daniil Simkin und Alejandro Vireilles, die als Erste Solisten auch wegen Corona nicht richtig glänzen konnten, scheiden aus. Auch für langjährig verdiente Tänzer wie Dinu Tamazlacaru oder Marian Walter ist es Zeit zu gehen. Hier könnten sich Ensemblemitglieder bewähren, stellt Spuck einen künstlerischen Ansporn oder: interne Konkurrenz in Aussicht. Ein Neuanfang mit Augenmaß, mehr Mittelmaß am Staatsballett oder ein Anschub beträchtlichen Ausmaßes: Das wird sich erweisen.