Das Leben ist ein wildes Tier. Besonders in den verwirrenden Jahren zwischen Pubertät und Erwachsensein, was immer das dann sein soll. Wenn man wie Lucas (Paul Kircher) gerade rausfindet, wer man sein will und seinen Platz in der Welt sucht. Und diese Welt dann zusammenbricht. Diesem Tier namens Leben kann er sich nicht nähern, „ohne gebissen zu werden“, sagt der 17-Jährige mit den traurigen Augen zu Beginn des Spielfilms „Der Gymnasiast“ direkt in die Kamera.
Lucas ist Protagonist und Erzähler dieser Geschichte eines Jungen, dessen ohnehin herausfordernde Identitätssuche vom tödlichen Autounfall seines Vaters überschattet wird. Und der mit dem Vater auch den letzten Rest seiner Kindheit verliert.
Sein älterer Bruder Quentin (Vincent Lacoste) hat Lucas spätabends aus dem Internat geholt und über Nacht in den Heimatort am Fuß der französischen Alpen gefahren. Dort ist schon die Verwandtschaft im Haus versammelt. Mutter Isabelle (wie immer eine emotionale Wucht: Juliette Binoche) versucht nicht zusammenzubrechen. Wie betäubt nimmt Lucas all das wahr, erst später schreit er sich im Bett seines Kinderzimmers den Schmerz und die Wut ins Kopfkissen.
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Schon der Titel spielt darauf an, dass Regisseur Christophe Honoré hier eine filmische Variante des Entwicklungsromans inszeniert. Sein Lucas ist ein Wiedergänger von Goethes Helden aus „Die Leiden des jungen Werthers“ vor 250 Jahren oder des Frédéric in Flauberts „L’éducation sentimentale“ ein Jahrhundert später. Honorés Version ist durch das Trauma des Vatertods zusätzlich belastet, nicht aus dramatischen Gründen, sondern autobiografisch bedingt.
Der 1970 in der Bretagne geborene Regisseur von „Chansons der Liebe“ und „Sorry Angel“ verarbeitet in seinem 14. Spielfilm ungewohnt persönlich seine eigene Jugend und den Unfalltod seines Vaters Ihm hat er den Film gewidmet und spielt ihn in den wenigen Szenen gleich selbst. Es ist auch der Versuch, das damals Erlebte, Gefühlte und Erlittene nun als gereifter Mann zu verstehen und einzuordnen. Und womöglich ein Stück weit umzudeuten, Sinn zu finden.
Für ihn wird das Trauma der Jugend zur Zäsur mit widersprüchlichen Folgen. Der Trauer und Wut seines Alter Ego folgen Lebenshunger und der unbedingte Wille, den eigenen Weg zu finden, nicht als Waise und Opfer, sondern selbstbestimmter Mensch. Und dazu gehören auch falsche Entscheidungen, die in Sackgassen führen.
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Allein mit seiner Mutter weiß Lucas nicht wohin mit seinen Gefühlen, es kommt zum Streit. Und Quentin, der längst in Paris lebt, holt den jüngeren Bruder für eine Weile zu sich, wo er auf andere Gedanken kommen soll. Lucas stürzt sich ins Leben, lässt sich treiben, versucht seinen Körper zu spüren, auch durch Sex. Selbst wenn er dafür seine Jugendliebe Oscar opfern muss.
Der junge Paul Kircher trägt den Film - und wurde dafür in San Sebastián ausgezeichnet
Lucas flieht vor dem Schmerz, der Taubheit, der Enge zuhause, und sucht nach hedonistischem Vergnügen und Erfahrungen, die ihm helfen herauszufinden, wer er sein will. Er ist ein Stürmer und Dränger, auch das zeichnet der literaturbeflissene Honoré, selbst Romanautor, anspielungsreich und überträgt es auf die oft atemlose Inszenierung. Ebenso wie auf den unbedingten Tonfall in Lucas‘ Monolog. Er lässt den Jungen direkt in die Kamera sprechen und die Ereignisse in Rückblenden kommentieren.
Die Rede gilt dem abwesenden Vater, ihm erzählt er zersplitterte Einzelmomente, die eine adäquate filmische Form für die posttraumatischen Erinnerungen bilden. Sie fügen sich zum intensiven Porträt eines Erwachsenwerdens, mit all den Brüchen, die fürs Leben prägen. Paul Kircher, Jahrgang 2001, trägt dabei, als Lucas stark und verletzlich zugleich, nahezu jeden Augenblick des Films. Dafür wurde er beim Filmfestival von San Sebastián als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.