Schon erstaunlich, was die uralte, zigmal beerdigte (Akt-)Malerei noch drauf hat. Die Ausstellung „Collapsed time“ der 1985 in Chicago geborenen Künstlerin Christina Quarles beginnt mit einer Intervention mit dem Titel „Now We’re There (And We’ Only Just Begun)“ – jetzt sind wir da (und wir haben erst angefangen): Eine schräge Wand mit zwei Durchgängen teilt den Raum und untermauert so das Statement. Die üblichen Fluchtlinien sind gekappt, die Perspektive muss sich neu justieren. Von der Wand hängen entrollte Leinwände mit Streifenmuster, die zwei Durchgänge frei lassen. Die Streifen verstärken den Eingriff in den Raum, sie konterkarieren die Schrägheit, denn hier hat schon alles seine Richtigkeit.
Christina Quarles definiert sich als queer, sie lebt in Los Angeles mit Frau und Kind und sie kommt aus einer multiethnischen Familie. Den schwarzen Vater sieht man ihr nicht an, was zu Irritationen in der Kindheit geführt hat. Andere Kinder warfen ihr vor zu lügen, wenn sie Auskunft über ihre Herkunft gab. Da wurde ihr klar, dass das innere Selbstbild oft im Widerspruch zur Außenwahrnehmung steht, „dass wir konditioniert darauf sind, bestimmte Informationseinheiten zu verarbeiten und andere auszublenden.“
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Mittig an der schrägen Streifenwand: ein Querformat in fröhlichen Frühlingsfarben, auf der einen Bildseite ein Akt mit drei verschlungenen Figuren, Arme, Frisuren, überlange Beine, die auf der anderen Seite in tentakelartige Gliedmaßen und einen weiteren Kopf münden. Über der Leinwand eine zweite Leinwand, die wie die Wand gestreift ist und, weil sie nicht gespannt ist, plastisch wirkt. Auf der rechten Seite der Trennwand ein Längsformat: Hier greifen die langen Arme über das Bild hinaus in die Streifen hinein. Der Bildrahmen ist nicht mehr das, was er zu sein scheint, und auch die Grenzen der Leinwand verschwimmen oder täuschen etwas vor.
Christina Quarles interessiert nicht „die Erfahrung, einen Körper zu betrachten, sondern die im eigenen Körper zu leben“. Die Körper, die sie malt, scheinen Einheiten zu sein, die sich in ihre Einzelteile zerstreuen oder umgekehrt. So wie die Selbstwahrnehmung. Wir werden als Einheit gesehen, nehmen uns aber selbst fragmentiert wahr, als Bündel von Teilen. Beim Gegenüber werden die einzelnen Teile zugunsten eines Gesamtbildes gerne unterschlagen, damit das Bild, das wir uns gemacht haben, in den Rahmen passt.
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Aber so einfach ist die Welt der Christina Quarles eben nicht. So wie sich die Spinnenarme einer Louise Bourgeois, die gereckten Arme einer Maria Lassnig oder die schwingenden Zöpfe der Cornelia Schleime in den Raum ausdehnen, greift sie hinein, um daran zu erinnern, dass auch der Raum Material ist und auf uns einwirkt. Das macht die Selbsterkenntnis noch komplizierter. Zugleich aber tröstet diese Verbundenheit mit der Umgebung. Wir sind nicht isoliert.
Christina Quarles: Konfrontation mit der Sammlung der Nationalgalerie
Manchmal muss man die Dinge auch verschleiern, um genauer zu sehen. Das tut Quarles in den Ecken der Räume, in die sie weiße Netze spannt, um den Blick zu fokussieren. Gleichzeitig löst sie so ein altes Problem. Begleitet werden ihre Arbeiten von selbst ausgewählten Kunstwerken aus der Sammlung des Hamburger Bahnhofs: ein getanztes Streifenquadrat von Daniel Buren, leicht ausgebeulte Streifen von Annette Kelm, Fotografien von Vito Acconci, auf denen er mit verbundenen Augen einen Ausstellungsraum erkundet oder Nam June Paiks berühmtes „Zen for TV“, eigentlich ein kaputter Fernsehbildschirm, auf dem nur noch ein Streifen zu sehen ist: Implodiertes Bild oder eben kollabierte Zeit.
Christina Quarles: Collapsed Time. Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Invalidenstr. 50-51, Mitte. Geöffnet Di., Mi., Fr. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr, Sbd./So. 11-18 Uhr.