Ein Bühnenmodell ist im Hangar 5 des früheren Flughafen Tempelhof aufgebaut. Staunend läuft man drumherum und schaut hinein. Kaum vorstellbar, dass bei den fünf Musiktheater-Aufführungen von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ ab 16. September jeweils 1600 Besucher darin Platz finden können. Aber der Hangar ist 6000 Quadratmeter groß. Auf der offenbar unter Wasser stehenden Bühne, die zwischen den beiden Besuchertribünen angelegt ist, sollen mehr als 150 Darsteller zu Gange sein, das Orchester spielt im Hintergrund. Es ist die neue Flughafen-Oper.
Das Intendanten-Duo Susanne Moser und Philip Bröking sowie Starregisseur Tobias Kratzer stellten am Montag die Pläne für den ersten „Satelliten“ der Komischen Oper vor. Es ist eine der Ausweichspielstätten in der Stadt während der Sanierungsphase. Das Opernensemble ist bereits am Packen, denn am 10. Juni findet die letzte Vorstellung im alten Opernhaus an der Behrenstraße statt. Über die Theaterferien hinweg zieht das Opernensemble ins Schiller-Theater nach Charlottenburg um.
Das Haus an der Behrenstraße wird für 437 Millionen Euro saniert und teilweise mit Neubauten erweitert. Mit sechs Jahren Aufenthalt im Schiller-Theater rechnet Intendantin Susanne Moser, wie sie am Montag in Tempelhof sagte. Jeweils zu Beginn der Spielzeit soll es eine Inszenierung im Tempelhofer Hangar 1 geben, weiterhin ein Stück an einem anderen Ort der Stadt zum Saisonende. Genaueres darüber wird bei der Spielzeit-Pressekonferenz im April bekannt gegeben. Darüber hinaus soll das in der ehemaligen Kindl-Brauerei in Neukölln bereits gestartete Festival „Schall&Rausch“ für neues Musiktheater fortgesetzt werden.
Der stillgelegte Flughafen ist auch als Kulturstandort gefragt
Susanne Moser und Philip Bröking verwiesen am Montag auf die wechselhafte Geschichte des Flughafens Tempelhof. „Dieses monumentale Gebäude steht einerseits für die Grausamkeiten, die sich Menschen gegenseitig zufügen, ist aber gleichzeitig auch Symbol für Solidarität, Menschlichkeit und Freiheit“, sagte Susanne Moser. Der Flughafen war von den Nazis erbaut worden, aber während der Berlin-Blockade 1948/49 Ziel der Luftbrücke zur Versorgung der Stadt. Jetzt ist der stillgelegte Flughafen auch als Kulturstandort gefragt.
Tobias Kratzer, der 2025 als Intendant die Staatsoper Hamburg übernimmt, sagte am Montag zum Hangar, er sei „durchaus blitzverliebt in die Location“ gewesen. Der Regisseur verglich die neue Flughafen-Oper humorvoll mit den Baggern in einer Außenwette von „Wetten, dass..?, „wenn mit einem riesigen Apparat etwas unglaublich Filigranes“ bewegt wird, um Emotionen zu erzeugen.
Aber nicht nur der technische, auch der künstlerische Aufwand ist bei dem szenischen Oratorium beachtlich. Es sind 83 Chorsänger:innen, mehr als 40 Statist:innen, 20 Chorknaben, 82 Musiker:innen und drei Solist:innen, darunter Gloria Rehm als La Mort und Günter Papendell als Jean-Charles, angekündigt. Das Bühnenbild ist von Rainer Sellmaier. Kratzer spricht bei dem Projekt lieber von einer Performance, denn es habe nichts mit dem Guckkasten der Opernhäuser zu tun.
Henzes Oratorium hinterfragt das menschliche Verhalten in Zeiten von Knappheit, wenn Verrat, Unterdrückung und der Kampf ums Überleben vorherrschen. Im Jahr 1816 war das französische Schiff „Medusa“ vor der Küste Senegals gekentert, nur wenige Menschen hatten überlebt. Der französische Maler Théodore Géricault brachte „Das Floß der Medusa“ auf die Leinwand, das Gemälde dieser zeitgenössischen Tragödie sorgte bei der Ausstellung im Pariser Salon 1819 für einen Skandal.
Die Uraufführung in Hamburg musste nach Tumulten abgebrochen werden
Der Skandal um den Stoff sollte im 20. Jahrhundert weiter gehen, denn auch das Che Guevara gewidmete „Oratorio volgare e militare“ von Henze und seinem Librettisten Ernst Schnabel stieß auf Zuspruch und heftigen Widerstand. Das Werk endet mit dem „Ho, Ho, Hồ Chí Minh“-Ruf, mit dem die 68er-Studentenbewegung ihre Solidarität mit dem kommunistischen Führer des damaligen Nordvietnam bekundete. Die im Dezember 1968 in Hamburg geplante Uraufführung im bürgerlichen Konzertsaal war in der rechten wie der linken Szene umstritten. Es kam zu Tumulten und einem Polizeieinsatz, weshalb die Aufführung abgebrochen wurde.
Das Stück sei oft als Metapher über die Flüchtlingsproblematik gelesen worden, sagte Kratzer, aber ihm sei im Laufe der Jahrzehnte eine noch größere Metaphorik zugewachsen. „Im Grunde ist es nicht nur eine Metapher über den globalen Süden, sondern eine Menschheitsmetapher geworden. Ich glaube auch, darauf zielt Henze.“ Dem Komponisten sei er einmal als 18-Jähriger im Zuschauerraum begegnet, plauderte Kratzer am Ende noch aus. Henze hatte seine Wollmütze verloren, Kratzer half ihm bei der Suche. „Wir haben sie damals nicht gefunden, ich habe also noch etwas gut zu machen.“
Flughafen Tempelhof, Hangar 1. Termine: 16., 23., 26., 28. und 30. September jeweils 20 Uhr