Festival am DT

Theater in Zeiten des Ukraine-Krieges: „Radar Ost“

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Elena Philipp
Ein Gastspiel Center of Contemporary Art DAKH, Ukraine: „Danse Macabre“.  |

Ein Gastspiel Center of Contemporary Art DAKH, Ukraine: „Danse Macabre“. |

Foto: Oleksand Kosmach

Brennend aktuell bei seiner letzten Ausgabe: Das Festival Radar Ost am Deutschen Theater zeigt drei ukrainische Inszenierungen.

Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine. Haben wir uns daran „gewöhnt“? Ist der Gedanke, dass in Europa blutige Gefechte stattfinden, „normal“ geworden? Was Krieg bedeutet, machte das Festival Radar Ost am Deutschen Theater jetzt noch einmal sehr direkt erlebbar. In fünf Festivaltagen waren sechs Gastspiele zu sehen, drei aus der Ukraine, je eine aus Belarus, Georgien und Slowenien. Hochaktuell und politisch.

Seit 2018 richtete die Kuratorin Birgit Lengers ihren Blick auf osteuropäische Länder und Gruppen, die in ihren Herkunftsländern oftmals politischen Repressalien unterliegen. Arbeitsbeziehungen in eine dissidente Szene sind gewachsen, und von ihnen profitiert das Publikum, dem Kunst aus dem Zentrum des tagespolitischen Geschehens begegnet. Zum letzten Mal: Die neue Intendantin Iris Laufenberg wird Radar Ost nicht fortsetzen. Eine nicht nachvollziehbare Entscheidung.

Radar Ost: Erinnerung an die ersten Kriegstage

Die drei ukrainischen Produktionen bei Radar Ost 2023 sind alle nach dem Angriff Russlands entstanden. „human?“ und „Danse Macabre“ reisen in der Zeit zurück, beide stammen aus den Wochen nach dem 24. Februar 2022. „Ha*l*t“ ist eine Uraufführung, in Kooperation mit dem Left Bank Theatre Kyjiw entstanden. Regisseurin Tamara Trunova gastierte schon 2020 beim Festival, mit ihrer seither viel gespielten Inszenierung von Natalia Vorozhbyts „Bad Roads“ über Russlands Annexion der Krim.

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Wirkte „Bad Roads“ noch recht statisch, bewahrt „Ha*l*t“ bewundernswert die Balance zwischen Schauspiel, Performance und dokumentarischem Theater. Shakespeares „Hamlet“ ist die Textgrundlage, ihm sind im Titel nur die Buchstaben „m“ und „e“ oder „me“, also das Ich, abhanden gekommen. Verloren sind auch alle vormaligen Gewissheiten: Nach einer „Hamlet“-Aufführung treffen sich die sieben Schauspielerinnen für ein Publikumsgespräch auf der Vorderbühne der Kammerspiele. Und begreifen erst nach einer Weile, dass sie sich an anderswo befinden müssen – die „Hamlet“-Aufführung am Left Bank Theatre hat aufgrund des Kriegsbeginns nicht mehr stattgefunden. Wo aber sind sie, was ist geschehen? In steter Überlagerung von Shakespeares Text mit ihrer Situation als Exil-Theatertruppe entsteht in „Ha*l*t“ ein komplexes Bild des Status quo. Wie in einem Alptraum gefangen ist der Hamlet von Oleksandr Sokolov, die Ophelia von Maryna Klimova schwankt ob der traumatischen Geschehnisse zwischen Kampfesmut und Verzweiflung, die eine der beiden Gertruds, Iryna Tkachenko, ist voller Wut, Kateryna Kisten wie betäubt.

Musikalische Messe über die Verheerungen im Alltag

Alle irren sie über die Bühne, als seien sie nicht ganz anwesend. Die Begegnung mit dem Geist von Hamlets Vater ist denn auch eine der starken Szenen in „Ha*l*t“ und vermittelt das Irreale, Verstörende des Krieges. Wie belastend es ist, fern der Ukraine in Sicherheit zu sein, wird in der Inszenierung zur dringlichen Frage: Dürfen wir hier Theater spielen, obwohl unsere Kollegen an der Front kämpfen? Einer von ihnen, Volodymyr Kravchuk, ist per Video als Fortinbras zugeschaltet, in Kampfmontur vor einem Militärfahrzeug. Fast heiter wirkt er, anders als die zerquälten Figuren auf der Bühne. Er ist im „Hamlet“ der Überlebende, der das sinnlose Sterben beklagt, und Shakespeares Text gewinnt nicht nur an dieser Stelle aktuelle Bedeutung.

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Einen bekannten Text haben auch mariia&magdalyna für ihre „theatralisch-musikalische Messe“ gewählt: Ausschnitte aus der Bibel. Was ist der Mensch? Wie kann es sein, dass der Alltag von einem Tag auf den anderen so verheert wird?, fragen sie in ihrem Sprechkonzert. Bomber und zerstörte Häuser ziehen über die Leinwand im Hintergrund, Sirenen und Raketeneinschläge hört man im Sound der Musikerin Khrystyna Kirik, die als DJane mit auf der Bühne der DT-Box steht. Marusia Ionova und Nadiia Golubtsova singen, schreien und flüstern die Sorge um ihre Angehörigen in die Mikrofone, den Hass auf Putin und ihren Versuch, die Liebe zum Leben zu bewahren. „human?“ ist Ende März 2022 entstanden, die Gefühle und Tagebuch-Reflexionen haben noch etwas Unmittelbares, sind roh und bloß.

Schrecken und Schönheit im Punkkonzert

Stark und berührend ist zum Festival-Abschluss am Sonntag „Danse Macabre“ von den Dakh Daughters und Regisseur Vlad Troitskyi. Fünf Musikerinnen mit Tetiana Troitska als Puppenspielerin und Erzählerin gemahnen daran, welche menschliche Tragödien und Verluste der Krieg zur Folge hat. Mit Songs zwischen aufbegehrendem Punk und poetischer Zartheit erzählen sie von Wut und Schmerz, von Liebe, Angst und Schuldgefühlen. Auch sie haben Bibelstellen ausgewählt, die Heimsuchungen aus dem Buch Hiob. Feuer regnet auf die Erde nieder, der Gesegnete wird zum Leidtragenden.

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Schrecken und Schönheit halten sich in „Danse Macabre“ die Waage. Neben den furchtbaren Fakten gibt es immer wieder Momente zärtlicher Erinnerungen. Aber dann jault die Luftalarm-Sirene, ein Schock durchfährt alle. Den Kämpferinnen an der Kunstfront ist es auferlegt, nicht in Klängen zu schwelgen, sondern der (An-)Klage Raum zu geben. Natalia Halanevych berichtet unter Tränen vom Gefühl der Entwurzelung seit der Flucht. Anna Nikitina erzählt die stets wieder erschütternde Geschichte einer vergewaltigten Frau. Ob die Geschichten autobiographisch sind, ist unwesentlich. Authentisch sind sie, wie wir alle wissen. Am Schluss von „Danse Macabre“ fleht Ruslana Khazipova ihren Geliebten an, der vor ihren Augen gefoltert wurde: Halte durch, glaube daran, dass Du leben wirst. Atme! Da fließen Tränen, auf der Bühne und im Zuschauerraum. „Slava Ukraini“, schallt es auch nach dieser Abschlussvorstellung.