Der Knall, mit dem das schwere, überlange Vertikalseil von der Decke herabfällt, könnte glatt Tote aufwecken. Der Anblick von Sina Saari, die daran behände hochklettert und sich akrobatisch anmutig wieder fallen lässt, vermutlich auch. Begleitet wird sie vom Knarzen der hölzernen Winde, während drei ihrer Kollegen das Seil darüber ziehen. Was für noch mehr Dynamik sorgt. Mal baumelt die Artistin unversehens ganz oben unter der Decke, mal geht es hinab Richtung Boden. Nachdem der spontane Applaus dafür verklungen ist, zieht Vejde Grind das Seil runter – und alle warten auf den mörderischen Krach. Doch in letzter Sekunde fängt es der Schwede leise und sanft auf.
Chamäleon: Kunstvolles Schwingen am Kronleuchter
Ein kleiner Twist, wie so viele in der wundersamen Welt vom Circo Aereo. Mit der Uraufführung von „In Between“ geben die sieben Artisten ihren Einstand im Chamäleon, das die Show koproduziert hat. In der Regie von Maksim Komaro stürzen auch mal eben Menschen bei einer aberwitzigen Hausparty aus dem Bühnenhimmel auf ein Sofa herab, während andere am Kronleuchter kunstvoll durch den Raum schwingen.
Als Künstlerischer Leiter hat Komaro den Circo Aereo 1996 mitbegründet. Die erste zeitgenössische, finnische Zirkuskompanie, längst eine der innovativsten und einflussreichsten weltweit. In über 40 Ländern sind die Artisten bereits aufgetreten und haben ihr Publikum verzaubert. Das gelingt ihnen bei ihrem Berliner Einstand ebenfalls bravourös. Sie entführen in die Zuschauer in ein Reich zwischen Traum und Realität.
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Unterlegt mit der melancholischen, suggestiven Musik von Sounddesigner Atte Kantonen gelingt es der Kompanie dabei, die Erwartungen der Zuschauer einerseits circensisch zu unterlaufen, andererseits weit zu übertreffen. Vejde Grind etwa malt mit dem riesigen, durch seine Hände gleitenden Cyr Wheel erst überraschende Bilder, bevor er es mit seiner Körperkraft rotierend bewegt. Und Alyssa Bunce fliegt nicht nur mit einem, sondern gleich mit drei Luftringen poetisch über die Bühne. Onni Toivonen hingegen überrascht nicht nur mit einer ungewöhnlichen Keulenjonglage, er balanciert auch auf witzige Weise eine Feder. Wesentlich kerniger, aber mindestens genauso virtuos ist das rasante Peitschenschlagen von Eetu Ranta. Eine eher selten zu sehende Disziplin.
Circo Areo: Ein begeisternd schräger Humor
Eigentlich sind Finnen für ihre Schwermut bekannt. Doch der Berliner Artist Saleh Yazdani bringt einen herrlich schrägen Humor in die Kompanie. Gast und Beobachter seiner Handstand-Akrobatik auf einem Tresen ist ein trinkfestes, bissiges Skelett, das ordentlich mitgroovt, aber auf Distanz bedacht ist. Erst ein spendierter Drink macht es gesellig. Mit seiner Partnerin Anna Shvedkova präsentiert Yazdani zudem eine beeindruckende Hand-auf-Hand-Akrobatik, wobei sie dem Saal auch allein mit ihrem mitreißenden Voguing einheizt. Anschließende Jubelstürme inklusive.
Solonummern wechseln mit Ensemble-Choreographien bei dem Mix aus Zirkus, Tanz und Illusion. Dazu hat Pavla Kamánova pittoreske Bühnenbilder im Retro-Look gebaut, die es zu erkunden gilt. Am Ende will man gar nicht mehr auftauchen aus dem schwindelerregenden, entrückten Kosmos vom Circo Aereo. Der schöne Schwebezustand zwischen surreal und real hält danach noch ein bisschen an und lässt sich mit der Kompanie glücklicherweise jederzeit wiedererleben.
Chamäleon, Rosenthaler Str. 40/41, Mitte, Tel. 400 05 90, bis 30.7., Di.-Fr. 20 Uhr, Sbd. 18 21.30 Uhr, So. 18 Uhr